Wendejahr 1989: Das Volk zeigt die Wendejacke

November I -> 8.11.2009

Rückblick: Mitte November 1989 ist der Frust groß – nicht nur die Oranienburger demonstrieren

MAZ Oranienburg, 27.11.2009

Was passierte im Wendejahr im Altkreis Oranienburg – und was berichtete die Märkische Volksstimme (MV)? Wir blättern zurück. Diesmal die zweite November-Hälfte 1989.

OBERHAVEL
Der Ton in der Leserbriefspalte wird rauer. „Anbei sende ich den heutigen Artikel aus der MV zurück“, schreibt eine Glienicker Leserin am 15. November 1989. „Meiner Meinung nach ist es eine Frechheit, in der heutigen Lage unseres Landes so etwas zu veröffentlichen.“ Die Rede ist von einem Beitrag mit dem Titel „Gedanken zur Ehrlichkeit“, der die Wende und die Diskussionen darum ein paar Tage vorher in Frage gestellt hatte.

Aber auch die Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in Oranienburg diskutieren. Sie wollen keinen Missbrauch der Schüler mehr, die am Ende nur noch als Kulisse gedient haben. Außerdem soll das Alter der FDJler reguliert werden: Keine alternden Dickbäuche sollen mehr ins Blauhemd dürfen.

Im Filmtheater Hohen Neuendorf läuft Mitte November 1989 übrigens „Chronik eines angekündigten Todes“.

Währenddessen sind die Oranienburger, Veltener und Leegebrucher genervt vom ständigen Hubschrauberlärm. Ein Dauergeräusch. Deshalb müssen die Flieger fortan Wohngebiete meiden. Von Wilhelmsthal aus dürfen die Helikopter unter der Woche nicht mehr zwischen 22 und 6 Uhr starten und landen. Und am Sonnabend steigen sie nur noch von 7.30 bis 15 Uhr in den Himmel auf und dröhnen vor sich hin.

In Wensickendorf ärgern sich die Leute über den Neubau für die geplante Kaufhalle. Im Keller steht bereits das Grundwasser. Es stellt sich heraus, dass gar keine Isolierung vorgesehen war. Nachträglich werden nun von innen Pappe geklebt und eine zusätzliche Wand davor gestellt. Das Dach, eigentlich glatt mit Pappe eingedeckt, ist schon jetzt eher ein Wellpappdach.

An der Hennigsdorfer Minol-Tankstelle beginnen Testwochen: die Öffnungszeiten werden ausgeweitet. In der Woche soll nun von 6 Uhr in der Früh bis 22 Uhr Benzin verkauft werden, an Wochenenden bis 18 Uhr.

An der Oranienburger Nicolaikirche startet am 18. November 1989 eine Demonstration des Neuen Forums. Harry Doede hatte sie angemeldet und etwa 5000 Teilnehmer angekündigt. Es kommen 2500. „Demokratie – jetzt oder nie“ lautet einer der Sprüche, ein anderer: „Märkische Volksstimme – Wann Stimme des Volkes?“. Auf der Kundgebung auf dem Pharmaparkplatz bekennt sich der Sekretär der SED-Kreisleitung zu den Fehlern der Partei. Auch die damalige SED-Bürgermeisterin Hildegard Busse spricht auf der Demo – und bekommt vom Volk spöttisch die Wendejacke gezeigt.

Der 18. November ist ein Sonnabend, und es ist schulfrei. Wie nun immer sonnabends in der DDR. Glück für die Schmachtenhagener, denn in ihrer Schule ist es bitterkalt. Am 23. November berichtet die MV, dass Direktor Günter Lehmann einen Papierkrieg um akzeptable Wärme im Haus führe. Die Temperatur in der Sporthalle liegt bei zehn Grad, die Dusche ist lauwarm, die Klamotten klamm.

Der November ist besonders kalt. Am 22. November fällt Eisregen, die Straßen verwandeln sich in Rutschbahnen. Sie werden mit Salz und Lauge abgestumpft. Das ruft die Bürger auf den Plan. Doch Bernd Harf, damals schon Leiter der Straßenmeisterei, sagt, er habe zurzeit kein anderes Mittel.

Eigentlich sollte die Mittelstraße in Oranienburg schon längst fertig sein, doch der Frost macht den Plan zunichte. Weiter geht’s erst, wenn es wieder wärmer wird.

Zwei Wochen nach der Grenzöffnung berichtet die MV erstmals aus Stolpe-Süd. Das 450-Seelen-Dorf lag bisher im Grenzgebiet zu Berlin-Heiligensee, also zum Westen. Jetzt darf jeder nach Stolpe-Süd – und staunen: Die Straßen sind sauber, es gibt schmucke Häuschen und ein kleines Lebensmittelgeschäft. „Man ist froh, dass wieder jeder kommen kann“, heißt es im MV-Beitrag.

Die Liebenwalder dagegen sind gefrustet: Ende November beschweren sie sich: Es gebe einige Läden, aber die würden anmuten wie aus längst vergangenen Zeiten. „Es ist eine Zumutung, dort zu kaufen und zu arbeiten.“

Keine Frage: Die DDR erlebt gerade ihr „Coming Out“. So heißt auch der Film, der Ende November im Hennigsdorfer Kino läuft. Darin verlieben sich zwei Männer ineinander. Das gab es bis dahin auch nicht im Staat – zumindest nicht offiziell.

Kommentare

Eine Antwort zu „Wendejahr 1989: Das Volk zeigt die Wendejacke“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert