Wendejahr 1989: Zwischen Party und Pflegenotstand

Oktober 1989 II -> 27.10.2009

Rückblick: Anfang November 1989 reden die DDR-Bürger Tacheles – und feiern an der Mauer

MAZ Oranienburg, 7.11.2009

Was stand im Wendejahr in der Märkischen Volksstimme (MV)? Und was nicht? Wir blättern zurück. Diesmal die erste November-Hälfte 1989.

OBERHAVEL
Jetzt werden die Karten auf den Tisch gelegt. Die DDR-Bürger machen ihrem Ärger Luft. „Dialog“ ist das Wort der Stunde im November 1989. Die MV wird in diesem Monat zum Ankündigungsorgan für Dialog-Termine. Friedrichsthal, Lehnitz, Birkenwerder, Hohen Neuendorf, Schildow, Teschendorf, Hennigsdorf, Velten. Dort und in vielen weiteren Orten im Kreis Oranienburg treffen sich die Menschen, um Tacheles zu reden.

Und auch in der „Meckerstimme“, wie die MV im Volksmund hieß, standen plötzlich ganz andere Überschriften und Kommentare. „Kreistag lernt aus Widerspruch“, heißt es am 2. November. Und weiter: „Ein Versammlungsbericht alten Stils ist nicht möglich.“

Einen Tag davor, am 1. November, steht in der MV: „Es war nützlich, den Sonntagabend im Gespräch zu verbringen. Ich habe dazugelernt.“ Die Rede ist von einer Diskussion im Oranienburger Jugendklub „Freundschaft“. Dort beklagen die Lehrer der Pablo-Neruda-Oberschule fehlende Sportanlagen und „nervende Bedingungen bei der Essenseinnahme“. Die Schüler der Neruda- und der Allendeschule müssen seit Jahren in die sogenannte Essenbaracke in die Augustin-Sandtner-Straße laufen, um Mittagspause zu machen. Vom Kreisschulrat seien bisher keine Antworten zu diesem Thema gekommen.

In derselben Veranstaltung sprechen die Oranienburger die Missstände im Gesundheitswesen an. Die Wartezeit in den Arztpraxen betrage schon mal sieben Stunden. Das Personal des Oranienburger Kreiskrankenhauses geht noch weiter in seiner Kritik. Die Mitarbeiter seien kaum mehr vertretbaren Belastungen ausgesetzt. Es fehle Personal, ebenso das Material und natürlich Geld. Auf der inneren Abteilung herrsche ein drastischer Pflegenotstand.

Bei einem Dialogabend im Glienicker Jugendklub wird der „absolute Machtanspruch der Partei in Frage gestellt“. Der Umgang in der SED mit Menschen unterschiedlicher politischer Auffassungen müsse sich ändern.

Jede Menge Zoff gibt es auch in Velten. Die Sportler der Ofenstadt fühlen sich verschaukelt. 80 Frauen und 40 Kinder (wohl keine Männer) der Sektion Popgymnasitik der BSG Chemie Velten trainieren mittwochs und donnerstags in der Sporthalle in Velten-Süd. Oder wollen es zumindest. Seit acht Wochen passiert nichts. Die Hallenzeiten seien zwar im September vergeben worden, doch die Halle ist Anfang November noch immer verschlossen. Einen Hallenwart gibt es ebenfalls nicht. Und auch die Sektion Turnen und Gymnastik protestiert: Die Halle in der Rathausstraße diene immer öfter als Versammlungsraum für Bürgersprechstunden – und keiner von ihnen hat Turnschuhe an! Ein Skandal.

Auch die Bewohner von Staffelde ärgern sich. Seit zwei Jahren warten sie auf einen neuen, befestigten Fußweg im Dorf. Doch die Firma wurde für andere Zwecke abgezogen, heißt es am 7. November in der MV.

Aber dann kommt das Wochenende, an dem vorübergehend alle Sorgen vergessen sind. Am Abend des 9. November 1989 werden in Berlin die Grenzen geöffnet. Einen Tag später bildet sich auf der Autobahn, der heutigen A111, am Grenzübergang Stolpe, ein langer Stau. Ein Ereignis, über das die Oranienburger MV jedoch nicht berichtete. Dennoch war der Jubel groß. Von Stolpe nach Berlin-Heiligensee: freie Fahrt in den Westen, und der Beginn einer Party.

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