1990 – Jahr der Einheit: Videorekorder sind in, Russisch ist out

Juli 1990 -> 17.7.2010

Rückblick: Im August 1990 geraten die Bauern in Schwierigkeiten – andere Branchen sind im Aufwind

MAZ Oranienburg, 18.8.2010

Was passierte im Jahr der Einheit im Altkreis Oranienburg – und was stand in der Märkischen Volksstimme (MV)? Diesmal: August 1990.

OBERHAVEL
Der Lokalteil der Märkischen Volksstimme bekommt endlich einen richtigen Namen: Am 1. August 1990 erscheint erstmals die Neue Oranienburger Zeitung.

Ansonsten überwiegen schlechte Nachrichten. Das Kaltwalzwerk in Oranienburg beantragt Kurzarbeit. Lieferte der Betrieb zu DDR-Zeiten noch etwa 7800 Tonnen Walzband aus, waren es im August 1990 nur noch 1100, für September sind gerade mal 700 Tonnen geplant.

In Hennigsdorf kündigt die Stadtverwaltung höhere Gebühren für die Kinderbetreuung an. Pro Tag und Kind sind in den Krippen nun 3 Mark fällig, im Kindergarten steigt der Preis um das Dreifache auf 1,55 Mark.

Unterdessen fallen aus Kostengründen diverse Volksfeste im Kreis aus. Weil eine 3000-Mark-Finanzspritze wegfällt, ist das Lehnitzer Neptunfest gestrichen, ebenso das Sommerfest in Leegebruch. Die Friedrichsthaler und Bärenklauer wollen ihre Feiern dagegen durchziehen.

Die Leute orientieren sich anderweitig: Über den Kreis schwappt die Videowelle. Im August 1990 existieren kreisweit 20 Videotheken, allein in Oranienburg fünf. Ein Radiogeschäft im Zentrum der Kreisstadt verkaufte allein im Juli etwa 100 Videorekorder. Und auch auf Gebrauchtwagen hat ein wahrer Ansturm eingesetzt. Innerhalb von zwei Tagen werden in Oranienburg 450 Autos neu angemeldet, davon kommen 380 aus dem Westen.
In den fünf Städten des Kreises gibt es jetzt genau 13 Gebraucht- und Neuwagenhändler, in den Gemeinden insgesamt 32. Jeder kommt gut zurecht, heißt es auf MV-Nachfrage.

Völlig out dagegen ist der Russisch-Unterricht. Kreisschulrat Rolf Tschammer bestätigt die Tendenz, dass in Klasse 5 kaum noch jemand Russisch lernen will.
Aber es sind Ferien, da gehen die Kinder sowieso lieber baden – auch am Weißen Strand in Oranienburg-Süd. Der ist aber eigentlich gesperrt, die Wasserqualität der Havel ist zu schlecht: Bakterien, Keime, Chemie.

Die Politiker scheinen keinen Urlaub zu haben: Kein Wunder, die Probleme häufen sich. Der Landkreis muss Schulden machen. Landrat Karl-Heinz Schröter beantragt einen Kredit über 35 Millionen Mark. Die Haushaltsgelder reichen nicht.

Gute Zeiten und schlechte Zeiten herrschen auf den Feldern. Die LPG Germendorf feiert einerseits den höchsten Ernteertrag seit Bestehen. Andererseits bringt zum Beispiel Roggen so wenig Geld ein, dass es nicht zum Überleben reicht. Am 15. August kommt es zum spektakulären Bauernprotest. Von 14 bis 16 Uhr sperren sie mit Traktoren, Mähdreschern und Lkw Kreuzungen, Brücken und Verkehrsknotenpunkte im gesamten Kreis Oranienburg. Der Verkehr liegt stundenlang lahm.

In Oranienburg droht das Aus für die Entbindungsstation im Krankenhaus. Es ist eine „Umprofilierung“ geplant. Horst Roderburg, Chefarzt der Gynäkologie, sagt am 17. August in der MV: Ja, das ist mehr als ein Gerücht.

Oranienburgs Bürgermeister Udo Semper kündigt unterdessen den Baustart für das „Atrium-Shoppingcenter“ an. Im Herbst soll es zwischen Breiter Straße und Leninallee (Berliner Straße) losgehen. Die Einweihung, die es nicht geben wird, ist für Mai 1992 geplant.

Etwa 50 Randalierer ziehen am 18. August durch Birkenwerder. Die Rechtsradikalen feiern am Jugendklub aus Anlass des dritten Todestages von Rudolf Hess. Sie singen Nazilieder und überfallen die Gaststätte „Birkenhof“. Sie drangsalieren das Personal, zerstören Möbel. Schaden: 50 000 Mark. Danach demolieren sie am Bahnhof Scheiben und Laternen.

Aufgeschreckt werden auch die Bewohner der Oranienburger Saarlandstraße. Am 23. August 1990 beschädigt der Fahrer einer Planierraupe eine Gasleitung. 25 Menschen aus sechs Häusern müssen sofort evakuiert werden. Während der Arbeiten bricht mal wieder der Verkehr in der Stadt zusammen.

Und wenn es gar nicht mehr geht, wird das Auto eben entsorgt: wie zum Beispiel ein Lada. Einfach so, mitten im Briesetal.

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