Wendejahr 1989: „Davon hat doch jeder gewusst“

Oktober 1989 I -> 10.10.2009

Rückblick: Mitte Oktober 1989 wird über die DDR-Politik gestritten – und über Trauben

MAZ Oranienburg, 27.10.2009

Was stand im Wendejahr in der Märkischen Volksstimme (MV)? Und was nicht? Wir blättern zurück. Diesmal die zweite Oktober-Hälfte 1989.

OBERHAVEL
Mitten in der Wendezeit wird Hennigsdorf von einem Weintraubenskandal erschüttert. Jette berichtet am 14. Oktober 1989 in ihrer Kolumne vom Leiter einer Kaufhalle. Er lehnte eine Weintraubenlieferung ab. Der Grund: Es war schon nach 16 Uhr und der Ladenschluss in Sicht. Der Lkw mit dem Obst fuhr zu einer anderen Kaufhalle weiter. Nun schwappt über den Leiter eine Welle der Empörung. Später bekommt er ein Disziplinarverfahren und muss auf 30 Prozent seiner Jahresprämie verzichten.

Es tut sich was im Staat – nicht nur beim Obst. Zwei Tage nach dem Honecker-Rücktritt berichtet die MV am 20. Oktober über halbwegs neue Töne in der SED-Kreisleitung: „Nach dem Reden nun echt verändern!“, heißt es da. Franz Schmoranzer, damaliger erster Sekretär der Kreisleitung, erklärt, dass es auch „in unserem Kreis Versuche gibt, die Ordnung zu stören, zu provozieren, statt zu diskutieren“.
Vier Tage danach meldet sich Friedrich Gantenberg zu Wort. Der Vorsitzende des Freidenkerverbandes im Kreis Oranienburg sagt, dass er froh sei, dass nach der Antrittsrede von Egon Krenz die Dinge offen ausgesprochen würden. Gleichzeitig kritisiert er „Schreier und Demagogen mit unerfüllbaren Forderungen“.

Unmut auch auf dem Bötzower Platz in Oranienburg. Am 26. Oktober kritisiert die Jugendbrigade des Kreisbaubetriebes, dass die Dinge nicht vorankommen. 44 neue Wohnungen noch 1989? Die Bauarbeiter schütteln die Köpfe. Mieser Mörtel, Mauersteine nicht in Paletten und überhaupt: Der Lohn ist gering. 744 Mark verdienen sie im Monat. Aber abhauen? „Nein, das wollen sie nicht“, schreibt die MV. Allerdings würden viele nach Feierabend anderswo arbeiten, um sich das nötige Kleingeld zu verdienen.

Am 28. Oktober erklärt die MV den Dialog mit den Lesern als eröffnet. Ein Hennigsdorfer Leser schreibt, dass es ihn nicht kalt lasse, wenn so viele DDR-Bürger den Staat verlassen. „Jeder, der geht, ist einer zu viel.“ Die Unzufriedenheit bestehe doch nicht erst seit vier Wochen, schreibt er weiter. „Davon hat doch jeder gewusst und nichts gesagt.“

Die Proteste werden öffentlich. Am 30. Oktober 1989 startet in Hennigsdorf die erste Montagsdemo, natürlich nicht genehmigt. 1500 Menschen sind dabei.

Am selben Tag beraten sich die Lehrer an der Oranienburger Comenius-Oberschule und fragen sich: Ist das Konzept der allgemeinen Bildung noch tragbar? Brauchen wir Patenbrigaden um jeden Preis? Die Staatsbürgerkunde-Inhalte stehen auf dem Prüfstand, ebenso wie die Pflichtkurse Russisch und Englisch.

Etwa zwei Wochen vor dem Mauerfall ist der Umbruch in der DDR deutlich zu spüren. Die Macht der SED schwindet. Im Oranienburger Filmpalast läuft Ende Oktober der Streifen „Man hat nicht immer Glück“. Und im Hennigsdorfer Aktivist-Kino: „Die Schande“.


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