Vor 20 Jahren (11): Mein Mauerfall-Pistazienträuma

(10) -> 9.11.2009
Original -> 22.11.1989

Freitag, 10. November 1989.
Ich weiß nicht mehr, wann ich aufgewacht bin. Aber ziemlich schnell nach dem Aufwachen, wusste ich: Dieser Tag wird ein ganz besonderer. Im Radio, auf SFB2, hörte ich schon einige Berichte über die Ereignisse, die sich in der Nacht in Berlin zugetragen hatten.
Im Wohnzimmer saß schon mein Bruder und sah sich das Frühstücksfernsehen von Rias-TV an. Jubelbilder von der Grenze. Tausende Leute, die feiern.
Die Mauer ist gefallen, jeder kann in den Westen reisen.

Und doch war einiges noch unklar. Mein Bruder war wohl ganz aufgeregt, wollte sich nun ganz schnell um ein Visa kümmern. Davon hatte Schabowski ja noch am Tag zuvor geredet.
Ich jedoch ging erst mal zur Schule. Erinnerungen daran habe ich allerdings nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, ob die Schule an diesem 10. November besonders leer war oder nicht. Aus meinem damaligen Beitrag weiß ich, dass am Ende eine Stunde ausgefallen war.
Gegen 13.30 Uhr jedenfalls war ich wieder zu Hause.

Und da ist schon Hektik ausgebrochen. Meine Tante war da und war ganz aufgeregt. Mein Bruder hatte sein Visa wohl bekommen, ob es meine Eltern auch hatten, weiß ich nicht mehr.
Wir brachen gegen 14 Uhr mit unserem Lada auf. Von meinen Eltern weiß ich, dass er wohl erst mal gar nicht angesprungen ist. Was einer mittleren Katastrophe glich. Aber das Ding muss dann doch funktioniert haben.
Im Auto habe ich noch schnell die Märkische Volksstimme durchgeblättert, die wir gerade aus dem Briefkasten vorn an der Straße geholt hatten. Damals kam die Tageszeitung erst am Mittag mit der Post. In der MV standen zwar die Reiseregelungen, aber ansonsten nichts weiter dazu. Typisch, dachten wir.

Mein Vater steuerte die Autobahn an. Auf der heutigen A111 wollten wir über über den Grenzübergang Stolpe nach West-Berlin einreisen.
In Höhe der Abfahrt Stolpe begann der Rückstau, etwa eine Stunde brauchten wir bis zur Übergangsstelle.
Der Akt selbst ging recht zügig. Man sah in unsere Ausweise und dann ging es weiter.
Der Wahnsinn. Ich weiß heute noch: Ich war sehr aufgeregt.

Der Westen war für mich immer präsent. Durch die Familie, durchs Fernsehen, Radio, durch Westpakete, Fotos und vieles mehr. Wie oft ist man mit der S-Bahn zwischen Pankow und Schönhauser Allee in Berlin dicht an der Mauer vorbeigerauscht. Wie oft standen wir an einem Rastplatz an der Autobahn bei Stolpe, weil wir irgendjemanden aus dem Westen getroffen haben. Und jetzt: Freie Fahrt nach West-Berlin.

In Heiligensee gab es einen weiteren Zoll-Kontrollpunkt, den wir aber recht schnell passieren konnten. Und dann war es wirklich klar: Wir sind drüben. Und das war der Satz aller Sätze, der mir im Kopf herumschwirrte: ICH BIN IM WESTEN. ICH BIN IM WESTEN.

Unser West-Berlin-Trip begann aber mit Umwegen. Das Ziel: Hermsdorf. Wir wollten erstmal zu unseren Verwandten in die Burgfrauenstraße.
Leider haben wir eine Abfahrt zu früh genommen, sind schon an der Schulzendorfer Straße runter von der Autobahn gefahren. Und irrten durch die Gegend. Bis uns ein anderer Autofahrer ansprach, wir ihm unser Problem schilderten und er uns daraufhin den Weg von Heiligensee nach Hermsdorf zeigte. Wir sollten ihm einfach nachfahren.

Wir betraten den Hof meines Cousins. Ganz aufgeregt. Ganz fröhlich. Ganz gespannt. Plötzlich kommt jemand um die Ecke gelaufen: meine Tante. Die wohnte eigentlich in Bissendorf bei Hannover und war wohl zufällig gerade in Berlin. Ein absolut unverhofftes, aber umso fröhlicheres Wiedersehen.
Und dann ritten wir also ein. Wir, die Ossis im Westen bei unseren Verwandten. Da, von wo sonst immer die Westpakete kamen, gerade mal 100 Meter von der Mauer nach Glienicke entfernt. Aber eben bisher unerreichbar.

Nach einiger Zeit ging es weiter – zu Kaisers in Hermsdorf. Zum ersten Mal in einen West-Supermarkt.
Und wieder: Wahnsinn! Dort waren sie alle, die ganzen Westprodukte aus der Werbung. Wirklich alle. In dem zweigeschossigen Supermarkt, gab es alles, was das Ossi-Herz begehrte. Mich faszinierte natürlich vor allem das riesige Regal mit den Zeitschriften. Natürlich nahm ich mir welche mit.
Außerdem: eine Alf-Kassette. Es müsste Folge 2 gewesen sein: Die Nacht, in der die Pizza kam. Ich habe sie heute noch.
Außerdem kauften meine Eltern Eis – und sicherlich noch einiges anderes, an das ich mich nicht erinnere.

Dann habe ich Gedächtnislücken. Ich meine, dass wir an diesem Abend zumindest einmal durch Tegel gefahren sind. Denn auf jeden Fall haben mich an diesem Abend die blinkenden Lichter und Reklametafeln fasziniert. Der helle, bunte Westen.

In Stolpe ging wieder alles zügig, gegen 20.30 Uhr waren wir wieder zu Hause.
Und ich fasste es immer noch nicht: ICH WAR IM WESTEN. Und noch immer war nicht so ganz klar, ob das jetzt alles dauerhaft bleibt.
Im Fernsehen sahen wir noch die Sondersendungen zum Mauerfall. Nebenher packten wir unsere Einkäufe aus.
Und ich war entsetzt: Meine Eltern kauften zwar Eis, aber: Pistazieneis. Pistazie!! Wieso, bitte schön, kauft man Pistazieneis?? ich war fassungslos, sauer und bockig. Ich kannte keine Pistazie. Und das Wort Pistazie klang eklig. Ich beschloss jedenfalls, kein Pistazieneis zu essen.
Ich habe bis heute kein Pistazieneis gegessen. Mein Mauerfalltrauma.


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Kommentare

2 Antworten zu „Vor 20 Jahren (11): Mein Mauerfall-Pistazienträuma“

  1. […] 20 Jahren, am 10. November 1989, kam es in unserer Familie zum Pistazienskandal. Bei unserem ersten Westbesuch kauften meine Eltern im Supermarkt in Berlin-Hermsdorf auch Eis. […]

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