Breitscheidplatz – 20 Minuten danach

Die ganze Tragweite wird einem erst nach und nach bewusst.
20 Minuten.
Es war gegen 19.40 Uhr, als wir den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin in Richtung Kurfürstendamm verließen. Schnell noch einen Langos, bevor wir ins Theater gingen.
Etwa 20 Uhr: Die Hölle bricht über den Platz herein. Ein Lkw rast über einen Teil des Geländes. Jetzt, in der Nacht, ist von zwölf Toten die Rede und von etwa 50 Verletzten.

Als es passierte, saßen wir gerade im Theater am Kurfürstendamm. Oliver Kalkofe präsentierte die 2016er-Highlights seiner „Mattscheibe“. In der Pause, kurz nach 21 Uhr, standen wir draußen vor dem Theater. Uns fiel nichts auf, dass da was passiert ist. Was ich aber registrierte: Mehrere Menschen hatten Nachrichtenseiten auf ihren Smartphones offen. Warum auch immer: Ich hatte die Pause nicht genutzt, um auf dem Telefon rumzudaddeln.
Nach der Pause aber, gegen 21.30 Uhr, berichtete Oliver Kalkofe, was keinen Kilometer von uns entfernt passiert ist. Was für ein Schock. Schnell war aber klar, dass die Show weitergehen sollte. Wir lassen uns das Lachen nicht verbieten – so war das Motto. Und tun konnten wir in dem Moment eh nichts.

Es war seltsam. Während vorn lustige Filme liefen, lachten wir. Gleichzeitig kreisten die Gedanken. Zwischendurch doch mal die Blicke aufs Handy. Und der nächste Schock: Dieses Foto. Wo wir doch gerade erst langgelaufen waren.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal machen würde: Den Safety-Check bei Facebook nutzen. Angeben, dass es mir gut geht. Eine SMS an die Mutter schreiben, dass nichts passiert ist.

Nach der Show war die Stimmung gedrückt. Wir mussten zudem in Richtung des Katastrophenortes, da unser Auto unweit davon im Parkhaus stand.
Der Kudamm war nicht ganz still, aber es war weniger los als sonst. Dennoch: Wer keine Nachrichten mitbekommen hat, ahnte nicht, dass nur 600 Meter entfernt ein Unglück geschah.
Das war auch der Gedanke, den ich hatte: Nun ist hier in Berlin was passiert. Man war SO dicht dran, nur wenige Minuten fehlten, und wir hätten es hautnah mitbekommen – oder schlimmer. Und dennoch: Uns ist nichts passiert. Nur wenige Meter weg, und man war sicher, man hat nichts von allem mitbekommen.

Die Gänsehaut kam erst wieder im Auto. Im Radio hieß es, die Tat sei um 20 Uhr passiert. Bisher gingen wir von etwa 21 Uhr aus. Aber dass es nur so kurz nach unserem Marktbesuch geschah, das schockierte uns noch mehr.
Im Radio liefen Berichte, dazwischen ruhige, melancholische Musik, die mir fast die Tränen in die Augen trieb.
Zu Hause dann die Berichte im Fernsehen. Die Bilder vom Breitscheidplatz. Da, wo wir vorhin noch langgegangen waren.

Noch (in der Nacht) ist nicht klar, wer es war, was die Hintergründe sind.
Um so ekliger, widerlicher ist es, wenn jetzt in den sozialen Netzwerken schon Hass geschürt wird. Wenn die Hetzer von der AfD und ihren Freunden sich sofort in Stellung bringen. Von „Merkels Toten“ faseln. Diesen Leuten möchte man einfach nur eine scheuern und ihnen ins Gesicht schreien: Einfach mal die Fresse halten!

Ich bin erschüttert. Ich bin traurig. Auch erschrocken, wegen meiner unmittelbaren Nähe. Eines aber habe ich nicht: Angst.
Angst wäre jetzt das völlig Falsche.


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Kommentare

4 Antworten zu „Breitscheidplatz – 20 Minuten danach“

  1. […] den Geschehnissen am Montagabend auf dem Berliner Breitscheidplatz herrscht auch in Oranienburg Trauer. Bürgermeister hans-Joachim Laesicke (SPD) hat am Dienstag […]

  2. […] Budapester Straße/Kantstraße. Heute vor einem Jahr raste dort an Lkw direkt auf den Markt – etwa 20 Minuten, nachdem wir ihn verlassen hatten. Es gab Tote und […]

  3. […] Es war noch mal ein Moment des Innehaltens, obwohl ich zugeben muss, dass die Katastrophe, die ich ja doch relativ nah an diesem 19. Dezember 2016 miterlebt hatte, schon ziemlich weit weg ist. Aber vielleicht ist das auch eine Art des persönlichen […]

  4. […] 19. Dezember 2016 wirkt weiterhin nach. Auch sechs Jahre später. Der Gedanke an damals ist immer noch präsent. Ich habe die Katastrophe nicht live erlebt, wir haben… Wir waren danach im Theater am Kudamm, wo es in der Halbzeit eine Ansage zur Lage draußen gab. […]

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