Klinik (2): Begegnungen

(1) -> 26.10.2013

Im Krankenhaus trifft man auf lauter Kranke. Man hat Begegnungen, die es wahrscheinlich sonst niemals gegeben hätte. Jeden Tag wechselte während meiner Zeit in der Oranienburger Klinik meine Zimmerbesatzung.

Da gibt es den gutmütigen, etwas zu aufdringlichen Opa-Papa. Er hilft, wo er kann. Er erklärt, was es zu erklären gibt. Auch den Schwestern, die das eigentlich alles gar nicht hören wollen. Wenn sie mal wieder was vergessen haben, wenn sie etwas an eine andere Stelle abgelegt haben als gestern.

Ihm folgt ein Mann mit heftigen Lungenproblemen. Er hustet sich die Seele aus dem Hals. Es hört nicht auf. Über seinem Bett blubbert es ohne Pause – Wasser für den Sauerstoff, den er bekommt. Er hat eine lange Odyssee hinter sich. Lungenklinik. Auch in Oranienburg war er schon mal. Zu Hause hat er auch eine Atmungsmaschine. Am ersten Tag ist sein Husten extrem, auch nachts. Er spuckt, keine Ahnung, wohin. Er röchelt. Es gibt Momente, da nimmt an Anteil. Aber auch die, wo man das einfach ignorieren muss. Im Laufe der Tage erfahre ich seine Leidensgeschichte, lerne die Familie kennen, wir besprechen das Fernseh-Abendprogramm. Wir sind Bettnachbarn.

Später kommt ein Mann, Mitte 70, hinzu. Er hat einen Tumor in der Rückengegend. Vermutlich hat der Krebs schon getreut. Seine Tochter hat es gerade erst erfahren, von der Ärztin. Ja, irgendeiner muss ihr ja reinen Wein einschenken, sagt er. Er scheint es gelassen zu sehen. Ich denke, langsam geht es vorbei, sagt er und wirkt dann doch einen Moment nachdenklich. Er bleibt nur einen Tag, er muss später in eine Spezialklinik. Nachts hören wir sein Stöhnen. Der Rücken. Eine Qual.

Ihm folgt ein noch älterer Herr. Er sitzt stumm auf seinem Bett. Er ist 85, auch er blubbert. Es blubbert nun doppelt auf unserem Zimmer. Er braucht auch Luft aus der Maschine. Gekommen ist er aber wohl wegen eines Gallensteins. Unsicher blickt er sich um. Essen möchte er nichts. Er ist den Leuten hier schon bekannt, erst vor einigen Wochen war er hier. Inzwischen ist seine Tochter gestorben, erzählt er der Schwester. Gestern erst. Sie nahm sich das Leben, nachdem sie schon jahrelang ohne äußere Hilfe nichts mehr machen konnte. Eine Stunde hat ihr Kampf am Lebensende gedauert, dann war sie eingeschlafen. Die Familie war dabei und blieb bis zum Schluss. Er verschläft den ganzen Abend. Manchmal schaue ich zu ihm rüber. Ja, er atmet noch. Ich habe das Gefühl, danach schauen zu müssen. In der Nacht ist er wach und weint leise.

Nein, man ist im Krankenhaus nicht allein mit seinem Elend, und das eigene ist sogar höchstwahrscheinlich das kleinste von allen. Es sind interessante, niederschmetternde, berührende, ja, manchmal auch nervige, aber auch lustige Begegnungen.


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2 Antworten zu „Klinik (2): Begegnungen“

  1. Nicole

    So ist das wahre Leben,genau getroffen.

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