Bahnbekanntschaften (62): Beruhigungsgesäusel

(61) -> 25.2.2012

In die S1 steigt in Borgsdorf ein Mann ein, der einen Jungen im Schlepptau hat. Der Junge scheint körperlich und geistig behindert zu sein. Er wimmert ein wenig, und als sie sich ins Abteil nebenan setzen, scheint der Kleine ziemlich nervös zu sein und gibt seltsame Laute von sich.
Es ist auch schwierig zu sagen, woher die beiden kommen. Der Ältere – er könnte sowohl sein Vater, aber theoretisch auch sein Opa oder ein Betreuer sein – trägt eine Art Turban. Aber er spricht Deutsch und säuselt zu dem Jungen: „Jetzt sind wir gleich da.“ Und wieder: „Jetzt sind wir gleich da.“

Allerdings: Was ist „gleich“? Die nächste Station? Die übernächste?
Der Mann nimmt die Hand des Jungen und und beginnt, ein Lied zu säuseln. Offenbar um den Jungen zu beruhigen – oder auch sich selbst. Einige Passagen wiederholen sich dabei immer wieder, das muss der Refrain sein. Laut genug, dass man gerade so mitbekommt, dass er kein deutsches Lied singt, aber dafür ist die Melodie auch zu orientalisch. Aber auch nicht leise genug, dass man es überhören könnte.

In Berlin-Hermsdorf steigt ein älterer Mann zu, und erstmals sitzt damit jemand den beiden direkt gegenüber. Als die S-Bahn losfährt, bemerkt der Mann das Dauergesinge. Er mustert die beiden, und er sieht aus, als ob er etwas angespannt ist.
Kurz vor Wittenau sagt der Alte zum Jungen: „Jetzt müssen wir raus.“ Der Junge will offenbar nicht, der Alte muss ihn stärker anpacken und hochziehen. Er hält ihn am Arm, als sie die Bahn verlassen.


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