Rügen, ein Winterparadies

Auf der Ostseeinsel ist der Winter unerbittlich. Der Schnee liegt hüfthoch, doch die Einheimischen nehmen es gelassen.

MAZ – Die Märkische, 20.2.2010

Diese Ruhe. Diese fast erdrückende Stille. Dort, wo sonst das Meer rauscht und die Möwen kreischen, ist plötzlich nichts mehr zu hören. Die Ostsee in der Binzer Bucht ist zugefroren. Das erste Mal seit 1996. Der Strand vor dem Kurplatz des Ostseebades auf der Insel Rügen zeigt sich als Wüste aus Schnee und Eis. Kleine Gletscher, tiefe Schluchten und weites Schneeland. Mit der Düne und der Strandpromenade bildet die grelle Fläche eine Einheit.

Nach dem heftigen Sturm am vergangenen Wochenende mussten sich die Binzer erstmal wieder frei-schaufeln. Das Tiefdruckgebiet „Queen“ sorgte für das dritte größere Unwetter dieses Jahres an der Küste auf Rügen. Wieder waren viele Straßen unpassierbar, die Rügenbrücke in Stralsund kurzzeitig gesperrt. Mit dem Sonnenaufgang beginnen die Binzer, akribisch die weißen Berge beiseite zu schippen und das Eis von den Wegen zu klopfen. An den Wegesrändern liegt der Schnee schon hüfthoch. Viel Platz ist nicht mehr. Aber die Rüganer nehmen’s gelassen. „Wir haben auch schon Schnee abgefahren“, erzählt Norbert Diener, stellvertretender Kurdirektor von Binz. „Es wird trotzdem eng.“ Die Hauptstraße, die zur Seebrücke führt, ist nur noch ein schmales Gässchen, die Berge dazwischen so hoch, dass die Geschäfte dahinter kaum noch zu sehen sind. Gestreut ist kaum einer der Wege, allerdings sind die Leute schon froh, dass sie überhaupt irgendwo hinkommen.
Immer wieder bleiben Autos auf ihren Parkplätzen stecken, ohne einen Spaten geht auf Rügen momentan gar nichts. Ohne die Hilfe der Einheimischen auch nicht. „Ich bin in diesem Winter schon geübt darin, Autos freizubekommen“, erzählt ein Binzer, der gerade den BMW eines Touristen befreit hat. Mit seinem Schneeschieber macht er sich wieder auf den Weg. In der Ferne heult bereits ein weiterer Motor auf. Der nächste Hilfseinsatz.
Die Passanten in Binz lassen es unterdessen ruhiger angehen. „Wir hatten bislang gerade mal eine Beschwerde, dass die Strandpromenade noch nicht geräumt ist“, so Norbert Diener. „Aber die Schneewehen sind so hoch, das bekommen wir so schnell nicht hin.“ Strenger Winter? „Ich würde sagen, wir haben endlich mal wieder einen richtigen Winter“, sagt er und erinnert sich an das Jahr 1996: „Da lag auch Ostern noch das Eis am Strand. Vielleicht stellen wir ja dieses Jahr den ersten Strandkorb auf eine Schneewehe.“

Ein paar Urlauber weniger als sonst werden es schon sein, ausgestorben wirkt Binz jedoch ganz und gar nicht. Im Gegensatz zu den Ostseebädern Göhren und Baabe. Der Verkehrsfunk warnte immer wieder vor Autofahrten nach und auf Rügen. Alternativen gab es jedoch nur wenige. Selbst die Schmalspurbahn, der Rasende Roland, musste kapitulieren. Für einen Tag ruhte der Betrieb zwischen Putbus und Göhren. „Zweimal haben wir versucht durchzukommen“, erzählt Kay Kreisel, Geschäftsführer der Rügenschen Bäderbahn. „Dass wir es nicht schaffen, passiert nicht oft. Unser Ehrgeiz ist es eigentlich, kontinuierlich durchzufahren, wenn es irgendwie geht.“ Diesmal ging es nicht. Die Schneeverwehungen zwischen Putbus und Binz waren so hoch, dass die Lok zurück musste. Nur eine Schneefräse war noch in der Lage, die Gleise freizulegen. „Seit dem 9. Januar mussten wir an viereinhalb Tagen den Betrieb einstellen“, sagt Kreisel. Mit einer einzelnen Lok wird die Strecke in der Regel nach einem Schneefall abgefahren und das erste Mal notdürftig geräumt. Vorn befestigen die Bahner einen Schneepflug, der eine Schneise freischlägt.
Dutzende Schaulustige beobachten, wie der erste Zug nach dem Unwetter in den Bahnhof von Göhren rollt. Er hinterlässt eine tiefe Schneise im Gleisbett. „Ich denke, die Fahrt ist unproblematisch“, beruhigt die Fahrkartenverkäuferin einige Touristen am Schalter. Minuten später setzt sich der Rasende Roland schnaufend in Bewegung. Eine Stunde braucht er bis Binz.

Ein paar Kilometer weiter, ganz im Südosten von Rügen, liegt Klein Zicker. Hinter Klein Zicker kommt nur noch der Bodden. Die schmale Straße durch den Ort ist wegen der Schneeberge noch schmaler als sonst, nur wenige Appartements sind belegt. Neben einem sanft qualmenden Schornstein hat es sich eine Möwe bequem gemacht. Die Straße endet an der Steilküste zum Greifswalder Bodden im Biosphärenreservat Südost-Rügen. Wo sonst Wasser ist, ist nur Eis zu sehen. Und da ist sie wieder: die drückende Stille. Bloß ein paar Krähen unterbrechen die scheinbar tonlosen Momente. Winterchaos? Nein, Winterparadies.


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Eine Antwort zu „Rügen, ein Winterparadies“

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