Tränen sind kein Tabu

Soziales: Wenn Heimbewohner sterben, bleiben Familie, Bewohner und Personal in der Trauer nicht allein

MAZ, 22.6.2009

Als auf der Wolkentafel im Flur des Pflegeheimes ein neuer Stern aufgeht, ist klar: Marga Steiner ist gestorben.

ORANIENBURG
Die Tafel an der Wand hat die Form einer Wolke. Daran befestigt sind sechs Sterne. Sie symbolisieren sechs Menschen. Sechs Menschen, die seit einigen Monaten nicht mehr unter uns sind. Auf der Rückseite eines der Sterne steht der Name von Marga Steiner (Name geändert), darunter ihr Geburts- und das Todesdatum.
Die Tafel hängt im Flur des Friedrich-Weissler-Hauses im Oranienburger Stadtteil Sachsenhausen (Oberhavel). In dem Altenpflegeheim wohnen etwa 50 Menschen, die alle ein Thema besonders beschäftigt: der Tod. Niemand kommt darum herum, auch wenn eigentlich kein Mensch gern über das Lebensende sprechen möchte.

Mit dem Stern in der Hand werden bei den Bewohnern Erinnerungen wach. „Marga Steiner war 71 Jahre alt, als sie vor einigen Wochen starb“, erzählt Heimleiterin Kerstin Becher. Die Frau war in diesem Augenblick nicht allein. Ihr Bruder saß am Bett, das Personal des Heimes, andere Bewohner. Alle nahmen sie Anteil. Marga Steiner ist sehr krank gewesen. Am Ende haben die Nieren nicht mehr gearbeitet, sie musste ins Krankenhaus und beatmet werden. Dass es nicht mehr lange dauern würde, schien klar. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Die Frau kehrte zurück ins Heim, zur sogenannten Finalpflege. „Das klingt wie ein bürokratischer Akt“, gibt Kerstin Becher zu. „Aber es ist auch eine Herzensangelegenheit“, versichert sie.
Um es Frau Steiner so einfach wie möglich zu machen, wurden die Angehörigen und ein mobiler Hospizdienst verständigt. Nicht immer sind die Familienmitglieder stark genug, um beim letzten Lebensweg dabei zu sein. „Es gibt Leute, die bis zum Schluss bei ihren sterbenden Angehörigen bleiben“, sagt Kerstin Becher. „Denen stellen wir dann auch schon mal einen Ruhesessel ins Zimmer.“ Es folgten letzte intensive Stunden und Tage mit Marga Steiner: Die Hand halten. Etwas vorlesen. Erzählen, was alles am Tag passiert ist. Ein leises Lied.
Brunhilde Bunk, die seit fünf Jahren in dem Heim arbeitet, bringt für solche Momente CDs mit ruhiger Musik mit: „Träumereien, Klavierkonzerte, alles was entspannt“, sagt sie. „Ich gebe dann auch schon mal eine Ölmassage an Händen und Beinen.“ Ringelblumenöl beruhigt die Haut. Am Ende reichen Mimik und Gestik, um sich zu verständigen.

Auch die anderen Bewohner merkten, was passierte: Marga Steiner fehlte. Beim Mittagessen war sie nicht mehr da, bei den Aktivkursen ebenfalls. Und in ihrem Zimmer ging das Pflegepersonal ein und aus. Ein untrügliches Zeichen. In den morgendlichen Andachten beteten sie für sie. Als Marga Steiner dann tatsächlich starb, war die Stimmung im Haus gedrückt. Der Arzt wurde verständigt, die Familie auch.

Das Friedrich-Weissler-Haus untersteht der Diakonie, christliche Werte spielen eine große Rolle. Mit einer Aussegnungsfeier nahm das Haus Abschied von der Gestorbenen. Die Familie traf ein, das Personal, andere Bewohner. Stille Trauer und ein gemeinsames Lied: „So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich! Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt; wo Du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit!“
Gemeinsam zündeten sie am Sterbebett eine Kerze an und beteten Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Am Ende das Vaterunser: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“

„Direkt danach unterhalten wir uns oft über den Verstorbenen“, erzählt Kerstin Becher: „Was wir gemeinsam erlebt haben. Manchmal lachen wir sogar.“ Das sei in dieser Situation sehr wichtig, ergänzt sie: „So umgehen wir die Hoffnungslosigkeit.“ Tränen fließen trotzdem.
Im Haus wird der Tod nicht tabuisiert. Auf einer Tafel im Flur befestigte Kerstin Becher ein Bild der verstorbenen Marga Steiner. Auf der Wolkentafel ein paar Meter weiter ging ein weiterer Stern auf. Der von Marga Steiner. Noch heute hängt er dort. „Nicht nur die Familie trauert“, sagt Kerstin Becher, „auch wir vom Personal. Oft bauen wir ja eine sehr intensive Beziehung mit unseren Bewohnern auf. Das ist, als ob man ein Familienmitglied verliert. Tränen sind kein Tabu.“ Doch alle müssten lernen, loszulassen. „Das versuchen wir auch den Angehörigen zu vermitteln.“

Die Wolkentafel mit den Sternen spielt am Tag vor dem Totensonntag im November wieder eine Rolle. „Wir laden die Angehörigen und Betreuer ein“, so Becher. Frau Steiner und alle anderen Verstorbenen des Jahres werden in einer Totengedenkstunde noch mal im Mittelpunkt stehen. „Wir nehmen die Wolke von der Wand, sammeln die Sterne ein, legen die Fotos dazu“, sagt die Heimleiterin. Diesmal wird es am 21. November so sein. In der Andacht werden dann noch einmal Episoden aus dem Leben des Bewohners ausgetauscht. „Das ist so was Schönes“, sagt Kerstin Becher. „Ein besinnlicher Abschluss für alle, wenn wir zusammen sitzen, lachen und uns erinnern.“
Noch bis November wird der Stern von Marga Steiner an der Wolkentafel kleben. So lange wird sie nicht vergessen. Mindestens so lange.


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