Wendejahr 1989: Die letzten Todesschüsse an der Mauer

Geschichte: Am 5. Februar 1989 wollten Chris Gueffroy und Christian Gaudian nach West-Berlin flüchten und scheiterten

MAZ, 5.2.2009

BERLIN
Eine Gedenksäule am Britzer Zweigkanal in Berlin-Treptow erinnert an Chris Gueffroy, gestorben am 6. Februar 1989. In der Todesanzeige in der Berliner Zeitung war ein paar Tage später von einem tragischen Unglücksfall die Rede. Das klang nach Unfall. Tatsächlich war Chris Gueffroy das letzte Opfer der Berliner Mauer.
Der Abend des 5. Februar 1989: Chris Gueffroy und sein Freund Christian Gaudian hatten einen Traum. Sie wollten um die Welt reisen. Die Wirklichkeit war weniger romantisch. Beide sollten zur Nationalen Volksarmee eingezogen werden.
Sie hatten gehört, dass es keinen Schießbefehl mehr gäbe. Tatsächlich hatte SED-Generalsekretär Erich Honecker im Dezember 1988 verkündet: „Wenn jetzt noch Schüsse fallen, dann sind es Warnschüsse.“
Gueffroy und Gaudian näherten sich dem Teltowkanal, der die Grenze zwischen Treptow (Ost) und Neukölln (West) bildet. Es herrschten minus drei Grad. Mehrere Stunden lang krochen sie durch die Schrebergartensiedlung, bis sie an die Hinterlandmauer gelangten. Gegen 23.40 Uhr konnten sie diese überwinden. Bis dahin blieben sie unentdeckt, auch als sie fünf Meter weiter über den Signalzaun kletterten. Dort jedoch lösten sie den optischen Alarm aus.
Nun ging alles ganz schnell: Die beiden Männer rannten auf den Streckmetallzaun zu, das letzte Sperrelement. Bevor sie ihn erreichen konnten, wurden sie bereits von zwei Grenzsoldaten beschossen. Gueffroy und Gaudian versuchten wegzurennen und per Räuberleiter den Zaun zu erklimmen. Dabei rannten sie jedoch in die Arme eines zweiten Postenpaares. Schüsse fielen. Keine Warnschüsse. Chris Gueffroy brach zusammen, die Kugeln hatten ihn in der Brust getroffen, der Herzmuskel war zerfetzt. Leblos lag der 20-Jährige neben seinem Freund, den es am Fuß erwischt hatte.
Christian Gaudian überlebte. Das Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow verurteilte ihn am 24. Mai 1989 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Später wurde er von der Bundesrepublik freigekauft und am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, in den Westen abgeschoben.
In der Märkischen Volksstimme stand zum Fall Gueff-roy kein Wort. Nur eine kryptische Meldung am 11. Februar 1989, in der ein DDR-Sprecher eine Behauptung von Ottfried Hennig als „Lug und Trug“ bezeichnete. Der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen hatte verlauten lassen, dass die DDR-Grenzsoldaten über besonders gefährliche Hochsicherheitsgeschosse verfügten. Dennoch: Die internationalen Proteste gegen den Schießbefehl hatte die SED-Führung so nicht einkalkuliert. In einer geheimen Anweisung hob ihn Honecker im April 1989 auf.
Das Landgericht Berlin verurteilte am 20. Januar 1992 die Todesschützen: Ingo H., der aus 40 Metern Entfernung schoss, bekam drei Jahre und sechs Monate. Andreas K., der mit seiner Kalaschnikow aus 100 Metern auf die Männer gefeuert hatte, zwei Jahre auf Bewährung. Der Bundesgerichtshof hob die Urteile jedoch im März 1993 wieder auf. K. wurde freigesprochen, H. zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.


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