Hans-Ulrich Jörges: Stille Invasion

Das geteilte Berlin hatte einige Kuriositäten zu bieten. Zum Beispiel die S-Bahn in West-Berlin. Die wurde nämlich von der Deutschen Reichsbahn betrieben – von der DDR aus. Die dortigen Beschäftigten lebten zwar überwiegend in West-Berlin, waren aber bei der DDR beschäftigt. Mussten sie zum Arzt, mussten sie in ein spezielles Arztzentrum in West-Berlin, in das aber jeden Morgen Arztpersonal aus Ost-Berlin angereist kam.
Für die DDR und für die SED ging es vor allem um das Prestige, denn eigentlich war das Betreiben der mehr und mehr maroden S-Bahn im Westen der Stadt ein Verlustgeschäft. Und man musste sparen.

Im September 1980 kommt es dann zum Eklat. Die DDR-Reichsbahner in West-Berlin wollen streiken. Sie sollen zwar minimal mehr Geld bekommen, allerdings sollen auch Strecken und Betriebszeiten gekürzt werden, somit befürchten die Bahner, in Wirklichkeit noch weniger Geld zu bekommen.
Stellwerke werden besetzt, der Bahnverkehr in Richtung Bundesrepublik wird lahmgelegt. Honecker und Co. wollen den Streik mit allen Mitteln unterbinden.
Bei den Streikaktivitäten immer mit dabei ist der Reuters-Korrespondent Valentin Freytag. Er wird wider Willen vom neutralen Beobachter zum Mitwisser, und er beeinflusst die Ereignisse auch mehr und mehr.
Aber irgendwann werden angebliche Bahnpolizisten über die Gleise von Ost- nach West-Berlin geschickt…

Aus dem wirklich passierten Ereignis im Jahr 1980 hat der Journalist Hans-Ulrich Jörges den Roman „Stille Invasion“ gemacht. Darin erzählt er quasi Tag für Tag, von Minute zu Minute, was rund um den Streik passiert ist. Der Leser ist dabei, wenn der Streik geplant und durchgezogen wird. Aber auch, wenn das SED-Politbüro in Ost-Berlin tagt.
Jörges selbst war bei Reuters, und er hat den damaligen Bahnstreik aus nächster Nähe erlebt – man kann davon ausgehen, dass er ein bisschen auch seine journalistische Geschichte erzählt.
Er recherchierte in Stasi-Akten, in Akten des Berliner Senats. Einige Abläufe sind dokumentiert, einige hat Jörges auf Grundlage der Ereignisse erfunden. Was bei der SED gesagt wurde, ist wohl nicht genau belegt.
Und so steht auf dem Buch zwar Roman – geschrieben ist das alles aber eher wie ein Bericht. Genaue zeitliche Abläufe, Dialoge, Versammlungen. Das ist einerseits spannend – aber andererseits auch nur wegen des spannenden geschichtlichen Plots. Abgesehen davon,. dass man aufgrund der Fülle der Handelnden manchmal etwas den Überblick verliert oder einiges etwas oberflächlich wirkt: Für einen wirklich guten Roman fehlt es sehr stark an Beiwerk. Das Thema ist stark, die Ausschmückung eher schwach.

Hans-Ulrich Jörges: Stille Invasion
be.bra verlag, 224 Seiten
6/10


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