Marc Kayser: Große Freiheit Ost – Auf der B96 durch ein wildes Stück Deutschland

In der DDR war die F96 die längste Fernverkehrsstraße des Landes. Inzwischen ist daraus die B96 geworden, sie ist inzwischen zwar löchrig, aber immer noch wichtig. Deshalb ist sie für viele Menschen in Ostdeutschland auch eine Straße voller Erinnerungen, voller Symbolik.
Marc Kayser hatte deshalb einen spannenden Ansatz, als er beschloss, ein Buch über die B96 zu schreiben. Es gibt schließlich viel über sie zu sagen.
Leider hat der Autor sein Konzept erstaunlich schnell vollkommen aus den Augen verloren.

Die B96 also. Sie führt von Zittau in Sachsen über Berlin nach Sassnitz auf Rügen. Marc Kayser hat sich ins Auto gesetzt und ist die Strecke abgefahren. Er trifft auf Menschen und Orte. Ein Schmied mit Zukunftssorgen. Eine plötzliche Baustelle. Auf Inka Bause in Berlin. Einen Motorradfan. Und viele weitere.
Die Geschichten sind meistens ganz interessant – aber sie haben viel zu oft nichts mit der B96 zu tun.

Viel zu oft verwendet Kayser die Floskel, dass etwas nur einen Steinwurf von der B96 entfernt liege. Immer wieder gibt es Kapitel im Buch, die völlig von der B96 abweichen. Südbrandenburg scheint den Autor so gut wie gar nicht interessiert zu haben. Immer seltener schreibt er über die Straße, sondern über irgendwelche Leute und Orte „einen Steinwurf entfernt“.
Manche Kapitel wirken zudem schludrig. Erst erzählt der Autor, dass die B96 den Potsdamer Platz in Berlin zerschneidet (nein, das ist die B1), um auf der nächsten Seite richtigerweise zu sagen, dass die B96 in einem Tunnel unter dem Berliner Zentrum entlangführt.
In Berlin reist der Autor scheinbar wahllos an irgendwelche Orte (Velodrom, Hellersdorf) um irgendwelche Storys zu erzählen – nur kaum eine über die B96 oder die alte B96a.
Nördlich von Berlin fährt er zum Grabowsee (nicht an der B96), nach Prenden (angeblich „zehn zügige Autominuten entfernt“ – dabei sind es gute 45 Minuten und nicht mal ansatzweise in der Nähe der B96), nach Zehdenick (an der B109) oder nach Rheinsberg (B122). Lauter Orte, die im Norden Berlins liegen – aber nicht an der B96, über die er eigentlich schreiben wollte. Fast schon ignorant.
Die spannende Geschichte vom Entenschnabel in Glienicke? Dass die B96 auf dem ehemaligen Grenzstreifen verläuft? Die Himmelspagode in Hohen Neuendorf? Alles nicht spannend für den Autor.
Immerhin kommt Fürstenberg vor, eine Stadt, die heute geplagt ist vom B96-Lärm, und in der viele Leute darum kämpfen, dass eine Umgehungsstraße gebaut wird.

Die ebenfalls spannende Geschichte der ganz alten F96 zwischen Greifswald und Stralsund, wird relativ lapidar runtererzählt. Recherchiert worden ist nicht. Von wann ist die Straße? Wann wurde die neue F96 (die inzwischen die B105 ist) gebaut?
Hätte mich interessiert. den Autor hat’s leider wohl nicht interessiert.
Das geht immer so weiter: Auf Rügen scheint er wahllos irgendwelche Orte zu besuchen (Binz liegt nun wirklich nicht an der B96). Über die Rügenbrücke wird nur gesagt, sie sehe schön aus. Über die Fahrt darüber (oder über den alten Rügendamm): nichts. Über den Zoff um den B96-Neubau: nichts.
Auch fehlen in diesem Buch Straßenkarten, um überhaupt mal zu verdeutlichen, wo man sich denn nun befindet (aber vermutlich hätte das entlarvt, dass viele Storys im Buch mit dem Thema nichts zu tun haben).

Dieses Buch erzählt zwar viel über Menschen, auch über die Freiheit, auch über das wilde Deutschland.
Aber über die B96 erfährt man in diesem Buch viel, viel zu wenig. Recherchen scheint es kaum gegeben zu haben. Es erinnert ein wenig an „Kesslers Expeditionen“. Aber von so einem Buch erwarte ich mir schon etwas mehr. In dieser Hinsicht ist es eine Enttäuschung – fast schon eine Täuschung.

Marc Kayser: Große Freiheit Ost – Auf der B96 durch ein wildes Stück Deutschland
Bild und Heimat, 187 Seiten
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Kommentare

5 Antworten zu „Marc Kayser: Große Freiheit Ost – Auf der B96 durch ein wildes Stück Deutschland“

  1. lapalux

    Ich kann Ihre Kritik nicht nachvollziehen. Es total in Ordnung, dass der Autor nicht stur auf einer Linie der Straße bleibt sondern auch das Drumherum beschreibt. Die Straße als Hauptpunkt in einem quirligen Umfeld – so funktioniert es ja auch im Leben. Möglicherweise ist Ehefrau/Ehemann Mittelpunkt, aber dazu gehören eben auch die jeweiliegn Familien. Und wenn man sich den Straßenverlauf ansieht stellt man fest: es gibt eben nicht so viele HAUPTstraßen in Ostdeutschland (jedenfalls nicht auf dieser Tangente). Ich halte es für die GROSSE FREIHEIT auch abseitige Wege zu beschreiben. Open minded! Alles andere wäre ja Blindflug! Oder noch schlimmer: Ignorant.
    Sie sollten freier denken!

  2. RT

    Nein, sollte ich nicht.
    Ich lese ein Buch, das hat einen Titel, der verspricht etwas, das wird nicht gehalten. So einfach ist das. Und wenn der Autor abseitige Wege beschreiben will, dann soll er kein B96-Buch schreiben.

  3. lapalux

    Mal abgesehen davon was sich der Autor gedacht hat oder nicht: Mir gefallen die Geschichten auch, die im Umfeld der Straße spielen. Sie wären nicht in der Welt, wenn Kayser nur geradeaus geblickt hätte.
    Empfhehlung: Lesen Sie „On the road“ von Jack Kerouac! Eine Straße als Vehikel für sehr viel mehr.

  4. RT

    Ob mir die Geschichten, die da am Rand spielen gefallen oder nicht, ist für mich gar nicht das Thema.

  5. lapalux

    woran man sieht: jeder liest ein buch anders.

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