Lebensgeschichte als ewige Mahnung

Geschichte: KZ-Überlebende besuchten am Wochenende die Gedenkstätten in Sachsenhausen und Ravensbrück

MAZ, 19.4.2010

Emil Farkas war 13 Jahre alt, als er 1942 ins KZ Sachsenhausen kam. Zum 65. Jahrestag der Befreiung reiste er noch einmal nach Oranienburg.

ORANIENBURG
Die Erinnerungen bleiben. „Bis ich tot bin“, sagt Emil Farkas. Der heute 81-Jährige spaziert über das Gelände der Gedenkstätte Sachsenhausen. Die Sonne scheint. Damals, als er 1942 in das Konzentrationslager musste, war Winter, die Temperaturen waren eisig. Mit 13 Jahren erlebte Farkas das Grauen. Noch heute hat er das Bild apathischer, dürrer Menschen in blau-weißen Pyjamas vor Augen. Die eingesperrt waren und kaum etwas zu essen hatten. Er hat überlebt, seine Brüder und Schwestern nicht.

Emil Farkas ist einer von mehr als 100 ehemaligen Häftlingen des KZ Sachsenhausen, die am Wochenende nach Oranienburg (Oberhavel) reisten. Am 22. April 1945 hatten russische und polnische Soldaten die Gefangenen des Lagers befreit. 65 Jahre ist das nun her. Anlass für einen „Tag der Begegnung“. In der 50 Kilometer weiter nördlich in Fürstenberg (Oberhavel) gelegenen Gedenkstätte Ravensbrück gedachten zur gleichen Zeit Überlebende, Besucher und Politiker an die Befreiung dieses KZ am 30. April 1945.
Vor allem Jugendliche ergriffen die Gelegenheit, sich in Sachsenhausen und Ravensbrück die Lebensgeschichten der inzwischen hochbetagten Menschen anzuhören. „Vieles von dem, was die Überlebenden uns zu erzählen haben, steht nirgendwo aufgeschrieben“, sagte Günter Morsch, der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, am Sonnabend in Oranienburg. „Ihre Lebensgeschichte bleibt uns eine ewige Mahnung“, so Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) gestern Vormittag in Fürstenberg. „Wer das Leid erfassen will, gerät an die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft“, sagte sie. Die grausame Vergangenheit sei Teil deutscher Geschichte und Identität.

Emil Farkas lebt heute in Haifa in Israel. Er trennt das Gestern vom Heute. „Deutschland und Israel sind nun gute Freunde“, sagt er und ergänzt lächelnd: „Alles in Ordnung.“ Wenn er aber durch Berlin spaziert, und dort ältere Leute beobachtet, kommen ihm schon manchmal Gedanken wie diese: „Vielleicht hat der Mann meinen Bruder ermordet?“ Angst oder Groll verspüre er dennoch nicht.
Farkas stammt aus Zilina in der Slowakei, ins KZ Sachsenhausen kam er, weil er Jude ist. Er kann sich gut erinnern: „Um 4.30 Uhr bin ich aufgestanden und habe mich im Schnee gewaschen und geturnt.“ Sport war ihm wichtig, er gehörte in seiner Heimat einer Turnmannschaft an. Zu essen hatten er und seine Mitgefangenen nicht viel: ein kleines Stück Brot und Suppe. „Die war aber nur warmes Wasser“, erzählt Farkas. Arbeiten musste er auch. Von alten Kabeln musste er die Gummis entfernen. „Aus dem übrig gebliebenen Messing wurden dann neue Kabel“, so der 81-Jährige. Ein anderes Mal marschierte er mit einer Gruppe von 100 Gefangenen durch die Stadt, um Offiziersstiefel einzulaufen. „Dazu mussten wir singen: In meiner Heimat blühen die Rosen.“ Farkas kennt noch die Melodie.

Sachsenhausen war nicht die einzige Station des damals jungen Mannes. „Wir wurden nach Bergen-Belsen transportiert“, so erinnert er sich. 1500 Menschen pferchten die Nazis in die Eisenbahnwaggons. „Wie Sardinen. Es gab viele Tote“, sagt Emil Farkas. Sechs Tage mussten sie allein in Hannover ausharren. „Wir hatten nichts zu essen, ich musste mich von Grashalmen ernähren.“ Die Zeit in Bergen-Belsen empfand er als besonders grauenvoll. Aufseher verprügelten ihn, weil er die Mütze nicht zum Gruß abgenommen hatte.
Seine letzte Station während des Krieges war das KZ Dachau. Farkas wog nicht mal mehr 30 Kilogramm, als das Konzentrationslager befreit wurde. „Ich habe auf der Erde gesessen, als ein Offizier vor mir stand“, erinnert er sich. „Der Amerikaner sprach Deutsch und fragte mich: Von wo bist du? Und: Du bist Jude?“ Es stellte sich heraus, dass auch der Offizier ein Jude war. „Da habe ich sehr geweint“, so Farkas. „Vor Freude.“

Er zog später nach Israel, arbeitete in Haifa 40 Jahre lang als Sportlehrer und ist nun Pensionär. Die Gedenkstätte Sachsenhausen besuchte er das vierte Mal. Am „Tag der Begegnung“ traf er auf Jugendliche, um von seinen Erlebnissen zu erzählen. Er blickt nachdenklich auf eine der Mauern, auf den Stacheldraht und den Wachturm dahinter. Eine bunt gekleidete Schülergruppe kommt auf ihn zu, und da macht sich wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. Emil Farkas hat seine innere Ruhe gefunden. Er läuft langsam zurück in das große Veranstaltungszelt, dort geht die Gedenkfeier weiter.


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