Je suis Karl

Das Grauen kommt unvermittelt. Er hat ein Paket für eine Nachbarin entgegengenommen. Er hat es in seine Wohnung gebracht. Er hat seine Frau begrüßt und die beiden kleinen Söhne. Er hat den Wein im Auto vergessen. Er ist noch mal raus. Er steht auf der anderen Straßenseite.
Und dann knallt es. Gewaltig. Eine Explosion. Staub.
Er sieht auf das Haus, in dem er wohnt. Es ist nur noch Schutt und Asche.
Alex (Milan Peschel) verliert seine Frau und seine beiden kleinen Söhne. Seine Tochter Maxi (Luna Wedler) war gerade unterwegs. Schock. Alex und Maxi sind traumatisiert.
Und Berlin trauert. Und es herrscht Wut. Ein islamistischer Anschlag, heißt es.
War das so?
Als Maxi am Unglücksort von einer Reporterin bedrängt wird, hilft ihr ein junger Mann, aus der Situation rauszukommen. Karl (Jannis Niewöhner) ist ihr sympathisch. Sie kommen ins Gespräch, und Karl will sie von ihrem Trauma befreien. Aber Karl hat noch ganz andere Dinge vor. Europa befreien. Europa verändern. Europa erneuern.

Dieser Film lässt einen verstört zurück. Denn er stellt Thesen auf, über die zu diskutieren ist. Es geht um die Frage, wie bestimmte Gruppen versuchen, die Macht zu ergreifen. Auf welche Weise sie die Gesellschaft spalten und in Aufruhr versetzen wollen. Mit welchen perfiden Methoden auf cool gemacht wird, aber man eigentlich ein Bauernfänger ist.
„Je suis Karl“ heißt der hochexplosive Film von Christian Schwochow, der ein düsteres Bild des rechtsextremen Untergrunds zeigt. Es geht um die Frage, wie sich der rechte Rand mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft schiebt. Vorbild für den Film sind die Machenschaften der Identitären Bewegung, die genau dieses Ziel verfolgt: die Mitte erreichen. Mit Videos, in denen Frauen über ihre Ängste reden – selbst wenn es gar nicht ihre eigenen sind, sondern nur gespielt sind. Angst machen, Hass schüren, spalten.
Der Satz „Je suis Karl“, der sich an „je suis Charlie“ anlehnt, hat in diesem Film eine hochdramatische Bedeutung, und Alex spricht das Ungeheuerliche irgendwann aus: Machtergreifung.
Wer sagt, dass die Handlung des Films weit hergeholt ist, unterschätzt die neurechten Bewegungen, die weltweit aktiv sind. Wer diesen Film sieht, wird unweigerlich an die versuchte Stürmung des Berliner Reichstags denken und die Stürmung des Capitols in Washington. An Gewaltausbrüche, wie sie in den USA oder Frankreich passiert sind – oder beim G20-Gipfel in Hamburg.
Der Film soll dazu führen, ins Gespräch zu kommen. Zu diskutieren, wie weit wir eigentlich sind. Wie geschützt oder ungeschützt wir sind. Ob Deutschland, die Deutschen noch besonnen genug sind, sich nicht spalten zu lassen.
Ohne Frage ist „Je suis Karl“ ein wichtiger Film, vielleicht der wichtigste des Jahres.
PS: Milan Peschel, gerade auch klamaukig in „Beckenrand Sheriff“ zu sehen und auch aus Til-Schweiger-Klamauks bekannt – spielt hier den traumatisierten Familienavter auf ganz starke Weise. Ausnahmsweise mal in einer sehr ernsten Rolle.

-> Trailer auf Youtube

Je suis Karl
D 2020, Regie: Christian Schwochow
Pandorafilm, 126 Minuten, ab 12
9/10


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