Als die Nazis zwei Jugendliche erhängten

Vor 80 Jahren sind am Tonberg in Velten sowjetische Zwangsarbeiter hingerichtet worden

MAZ Oberhavel, 9.11.2024

Velten.
Wer heute am Veltener Mühlenweg raus auf die Felder und Wiesen läuft, erlebt dort eine Idylle. Ganz sanft erhebt sich der Tonberg in die Landschaft. Vor 80 Jahren aber, am 7. November 1944, spielte sich dort das Grauen ab.
Ungefähr dort, wo sich der Weg gabelt, sind damals zwei Männer während einer Art Zeremonie erhängt worden. Es gab viele Zeugen, und dennoch wollten die Nationalsozialisten nicht, dass man später weiß, wie Konstantin Ignatjew und Viktor Korpo ums Leben gekommen sind. Sie wollten die Tat vertuschen.

Die beiden Männer, 20 und 18 Jahre alt, waren Zwangsarbeiter in Velten. „Konstantin Ignatjew und Viktor Korpo lebten vor der Deportation nach Deutschland in Kirowograd“, sagt Jakob Krieg. Der 15-jährige Schüler aus Velten hat sich mit dem Schicksal der erhängten Männer befasst. Kirowograd liegt in der heutigen Ukraine, damals Teil der Sowjetunion.
In Velten arbeiten sie in einer Ofenfabrik, sie waren Zwangsarbeiter. „Im Sommer 1944 waren im Deutschen Reich mehr als 7,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte gemeldet, darunter 1,9 Millionen Kriegsgefangene und 5,7 Millionen zivile Arbeitskräfte“, erklärt Horst Seferens von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

Nach Angaben des Historikers Dietmar Süß wurden allein aus der damaligen Sowjetunion rund 3,5 Millionen Menschen, darunter viele Minderjährige, zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. „Diese millionenfache Versklavung ‚fremdvölkischer‘ Arbeitskräfte durch das NS-Regime entwickelte sich zum größten rassistischen Ausbeutungsunternehmen der jüngeren Geschichte.“
Allein in Velten existierten 13 Zwangslager für zivile Arbeitskräfte und ein KZ-Außenlager des KZ Ravensbrück. Die Lebensverhältnisse in den Lagern seien schlecht, die Menschen seien der Willkür ihrer Arbeitgeber und Bewacher ausgeliefert gewesen.
„Beim geringsten Verstoß gegen die rigiden Vorschriften, mit denen die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin erzwungen und nicht zuletzt jedweder Kontakt zur deutschen Bevölkerung unterbunden werden sollte, drohten drakonische Strafen“, so der Historiker weiter. Es seien häufig Menschen aus der deutschen Zivilbevölkerung gewesen, die die vermeintlichen „Täter“ denunzierten.
Auch in Velten sei das so gewesen, wo der Ofenfabrikbetreiber Karl Sense die beiden Zwangsarbeiter laut einer Zeugenaussage gleich bei vier offiziellen Stellen anzeigte. Die Strafen reichten von Geldzahlungen über Prügel bis zur Einweisung in ein sogenanntes Arbeitserziehungslager oder ins Konzentrationslager. Oder eben eine Hinrichtung. Diese „Straftaten“ seien nicht von der Justiz verfolgt worden. Das übernahm seit 1943 ausschließlich die Gestapo.

Was Konstanin Ignatjew und Viktor Korpo genau zur Last gelegt wurde, ist unklar. „Weder wissen wir genau, welche Vergehen ihnen vorgeworfen wurden, noch ist bekannt, wer ihre Ermordung angeordnet hat“, sagt Dietmar Süß. „Sicher ist, dass sie Opfer eines nationalsozialistischen Verbrechens geworden sind, wie es in den letzten Kriegsjahren hundert-, ja tausendfach in aller Öffentlichkeit geschehen ist.“
Aus dem Bericht des Arztes Albrecht Meyen geht hervor, dass etwa 100 Leute am 7. November 1944 am Veltener Tonberg waren, „teilweise mit Gewehren“. Und weiter: „Es regnete. Unten in der Tongrube war ein Galgen aufgerichtet mit zwei Stricken. Konstantin Ignatjew und Viktor Korpo wurden mit einem Kastenauto dorthin gefahren. Sie waren gefesselt.“
Sie wurden unter den Galgen geführt „und mussten darunter auf einen kleinen Tisch steigen. Ihnen wurden die Fesseln abgenommen, stattdessen bekamen sie Schlingen um den Hals. Ein Zivilist, der Staatsanwalt, las das Todesurteil vor.“ Jemand gab dem Tisch einen Stoß, die beiden Männer fielen abwärts und blieben mit der Schlinge um den Hals hängen. 15 bis 20 Sekunden zappelten sie, dann bewegten sie sich nicht mehr.

Im Anschluss wurde eine riesige Gruppe Zwangsarbeiter dorthin geführt. Ihnen wurde ihre jeweiligen Straftaten und Strafen bekanntgegeben – mit der Warnung, ihnen könnte es genauso gehen wie den beiden Gehängten. Die sterblichen Überreste von Konstanin Ignatjew und Viktor Korpo wurden ins Auto geladen. Man geht davon aus, dass sie im Krematorium des KZ Sachsenhausen verbrannt worden waren.
Albrecht Meyen sollte den Totenschein ausstellen. Die Nazis verlangten von ihm, dass er als Todesursache „Atemnot“ angeben sollte. Tatsächlich steht in der Sterbeliste der Stadt Velten bei Konstantin und Viktor keine Todesursache. Nur Todestag und Todesort – die verlängerte Mühlenstraße.

„An solchen Stellen sieht man diese perfide Faulheit und das Fehlen an Respekt vor dem Leben und dem Tod anderer Menschen, die im NS-Regime vorkamen“, sagt Jakob Krieg, der rund um das Schicksal der Erhängten geforscht hat.

Tatsächlich ist niemand für die Tat juristisch belangt worden. Karl Sense, der die beiden Männer denunziert hatte, ist in den Westen geflohen. „Wäre er in Velten geblieben, hätte die sowjetische Besatzungsmacht ihn mit großer Wahrscheinlichkeit in das Speziallager in Sachsenhausen verbracht, wo zahlreiche Unternehmer unter dem Vorwurf inhaftiert waren, sowjetische Zwangsarbeiter misshandelt zu haben“, so der Historiker Dietmar Süß.

Am Donnerstagnachmittag ist am Ort des Geschehens in Velten an Konstantin Ignatjew und Viktor Korpo erinnert worden. Der Schüler Jakob Krieg hatte die Gedenkfeier organisiert. Die beiden Gehängten seien hilf- und wehrlos der Gewalt ihrer Wärter ausgesetzt gewesen, sagte Anikke Knackstedt vom Bündnis für Dialog und Toleranz.
Die jungen Männer konnten sich nicht auf ihre Rechte als Bürger berufen, „denn da ist keine Justiz, die ihnen zur Seite stehen würde und keine Polizei, die ihnen helfen könnte, keine Gesellschaft, die sie schützte“. An ihnen sei ein Exempel statuiert worden, „um Macht zu demonstrieren und Terror unter den Mitgefangenen zu verbreiten“.
Am Donnerstag sind Gebinde, Blumen und Kerzen am Mühlenweg niedergelegt worden – in Erinnerung an die beiden Jugendlichen, die dort vor 80 Jahren ihr Leben lassen mussten.


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