Eurovision Song Contest 2022

SA 14.05.2022 | 21.00 Uhr | Das Erste

Ich kann diese Floskel einfach nicht mehr lesen: Noch nie war der Eurovision Song Contest so politisch wie 2022 in Turin.
Ja ja, diese Politik. Die Politik, die am Sonnabend dafür gesorgt hat, dass die Ukraine den Wettbewerb gewonnen hat. Die Politik, die dafür gesorgt hat, dass das Publikum in 28 von 39 Ländern bei der Abstimmung für zwölf Punkte sorgte, für einen Rekordwert. Die Politik, die dafür gesorgt hat, dass der ESC mit dem Lied „Give Peace a Chance“ begann. Dass es während einiger der Auftritte Äußerungen zum Krieg und zum Frieden gab. Dass das Kalush Orchestra noch ein paar Worte verlor: „Save Ukraine, save Mariupol, save Asovstal!“
Alles Politik.
Aber vielleicht ist es auch einfach nur menschlich. Vielleicht, nein, ganz sicher sind das Akte der Humanität. Es gibt einen Krieg, und wir wollen, dass er aufhört. Und wir sind solidarisch mit dem Land, das angegriffen wird.
„Stefania“ wäre allerdings auch ziemlich sicher ohne die aktuelle Situation mindestens in den Top 10, wenn nicht eher in den Top 5 gelandet. Denn wie auch schon 2021 bei „Shum“ von Go_A für die Ukraine eine Top5-Platzierung holte, verband das Kalush Orchestra landestypische Folklore mit modernen Sounds. So was funktioniert beim ESC sehr oft, wenn es denn auch noch gut gemacht ist.
Und so ist eine Diskussion darüber, wer denn „eigentlich“ den Sieg verdient hätte, absolut müßig.

Im Fall Deutschland beginnt dagegen die Diskussion wieder von vorn. Oder eigentlich: Sie nimmt wieder ordentlich Fahrt auf. Wieder ist die Frage: Lernt der NDR diesmal irgendwas aus dem Debakel? In Turin hat Deutschland wieder mal den letzten Platz belegt – es gab magere sechs Punkte, und auch das nur beim Publikumsvoting. Je zwei Punkte aus Österreich, der Schweiz und aus Estland. Dabei müssen wir uns für den Auftritt von Malik Harris mit „Rockstars“ alles andere als schämen. Malik ist ein guter Typ, sein Lied eingängig. Seine Show auf der Bühne, es sollte seinen Probenraum darstellen, war intim, aber vielleicht nicht für jeden verständlich.
Aber das reicht nicht. Dabei muss man ganz klar sagen: Die Schuld liegt nicht bei Malik Harris – für ihn wäre es zu wünschen, wenn er trotzdem Karriere machen kann. Aber beim NDR, der bei der ARD für das Event zuständig ist, muss man sich Gedanken machen – und zwar nun wirklich.
Es reicht nicht, einen radiotauglichen Song zu suchen. Radiotauglich ist für den ESC kein Kriterium. Es muss ein Song her, dass auffällt. Weil er so hervorragend ist, weil er anders ist, weil er auffallend oder weil er alles das zusammen ist. Man hat drei Minuten, um es knallen zu lassen: Mit einer tollen Kompositionen, einer tollen Show, mit etwas Beeindruckendem, was Lustigem, was zum Tanzen oder zum Weinen oder schlicht für ein Gänsehautgefühl. Radiotauglich zu sein, löst in der Regel all das nicht ein. Und das hätte im übrigen auch Elektric Callboy so nicht eingelöst.
Malik Harris war der beste im deutschen Vorentscheid – der aber bot alles in allem keine wirkliche ESC-Kost.

Aber was ist denn wirkliche ESC-Kost? Zum Beispiel Sam Ryder mit seinem „Space Man“ für das Vereinigte Königreich, zum Beispiel. Ein Song, der unter die Haut geht. Ein Typ mit einer Wahnsinnsstimme. Oder Spanien: Chanel bot mit „SloMo“ die Show des Jahres – rhythmisch, erotisch, aufregend – eine Musikparty.
Oder Italien: Eigentlich hatten Mahmood & Blanco mit „Brividi“ einen der besten ESC-Songs aller Zeiten. Er geht unter die Haut („Gänsehaut“), er ist intensiv, der Text ist eine Wucht, und eigentlich auch die beiden Typen, die es singen. Dass Italien dann nur auf Platz 6 landete, lag aber daran, dass die beiden live auf der Bühne nicht so richtig gut abgeliefert haben – was dann angesichts der sehr hohen Erwartungen durchaus die Enttäuschung des Abends war.
Oder Serbien: Konstraktas Lied „In corpore sano“ („In einem gesunden Körper“) ist eigentlich total sperrig. Aber die Frau, die sich die Hände wachsend auf der Bühne saß, fiel einfach auf – dazu der Klatschrhythmus, und fertig war die gute Show für diese drei Minuten. Oder Moldau: Auf den ersten Blick ein Quatschlied, aber letztlich dann doch Party. Mit „Hey ho, let’s go!“ ging es im Partyzug von Kischinau nach Bukarest – und wurden dafür gefeiert. Von Deutschland gab es im Publikumsvoting 10 Punkte! Auch so was funktioniert also.
Die Liste dessen, was geht, wie man eine gute Show abliefern kann, ist lang. Und sie zeigt auch, wieso es für Deutschland mit einem guten, aber leider eben nicht überragenden Song fast nicht möglich war, in 39 Ländern in die Top 10 zu kommen. Denn nur die ersten zehn bekommen überhaupt Punkte. Wer 39-mal auf einem guten 11. Platz landet, hat am Ende dennoch 0 Punkte.

Die RAI hat den Eurovision Song Contest 2022 in Turin produziert – aber leider nicht wirklich eine Visitenkarte hinterlassen. Dafür waren die Shows inhaltlich nicht überzeugend oder mitreißend genug.
Erstaunlich viele Regiefehler sorgten für Kopfschütteln. Kameras zeigten ins Nichts. Oder Kameras waren nicht da, wo sie sein sollten. Beim Schnelldurchlauf wurde statt der ukrainischen die deutsche Delegation gezeigt. Einmal fiel ein Scheinwerfer aus. Moderator Mika sagte an einer Stelle ein falsches Land an.
Dass drei Länder für die Übermittlung der Jury-Votes nicht erreichbar waren und stattdessen ESC-Chef Martin Österdahl die Ergebnisse dieser Länder verkünden musste, hatte dagegen wohl nicht technische Gründe. Es heißt, es habe in diesen Ländern Jury-Unregelmäßigkeiten gegeben. Im Halbfinale mussten sechs Wertungen annuliert werden, die Jurys seien disqualifiziert worden.

Weitgehend enttäuschend war aber auch das Rahmenprogramm. Nach starkem (von Peter Urban zugequatschtem) Auftakt mit dem Friedenssong „Give Peace a Chance“ ließ das Niveau merklich nach. Pausen wurden mit billigen, lieblosen Zusammenschnitten aus den Halbfinals überbrückt. Laura Pausini und Mika, die beide auch moderierten, durften mehrere Songs singen – wohl auch mehr aus Promo-Zwecken. Gigliola Cinquetti sang „Non ho l’età“, ihren italienischen ESC-Siegersong von 1964 (!). Das war nett, aber fürs Finale dann doch sehr lahm. Stattdessen ließ man Diodato Seine Hymne „Fai rumore“ nur im ersten Hlbfinale auftreten. Es wäre die perfekte emotionale Show für das Finale gewesen.
Auch Måneskin, die Vorjahressieger hatten ihren Auftritt. Frontmann Damiano David war am Bein verletzt und absolvierte seinen Auftritt sichtbar mit großen Schmerzen. Dennoch ist es ärgerlich, wenn die Band lieber einen neuen Song vorstellt als ihren Siegertitel „Zitti e buoni“ nochmals zu präsentieren. Immerhin ist es das Lied, das ihnen jetzt vieles möglich macht, und es dann nicht singen zu wollen, wirkt schon sehr arrogant.

Und 2023? Eurovision Song Contest in der Ukraine? In Kiew? Seitens der Ukraine wünscht man sich das, hält an dieser Idee, diesem Traum fest. Die Chancen dafür stehen jedoch schlecht. Momentan herrscht im Land Kriegsrecht, das verbietet Großveranstaltungen. Sicher ist dort so ein Event keinesfalls. Und selbst wenn in absehbarer Zeit so etwas wie Frieden herrscht – der ESC braucht Planungsvorlauf. Schon jetzt haben sich das Vereinigte Königreich, Schweden und Spanien angeboten, den ESC 2023 zu veranstalten.
Lassen wir uns also überraschen – in jeglicher Hinsicht.

-> Alle Videos rund um den ESC, mit allen kompletten Shows, Auftritten, Hintergrundberichten in der ARD-Mediathek


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Kommentare

Eine Antwort zu „Eurovision Song Contest 2022“

  1. […] und bei one laufen. Nun aber ist sie auch im Ersten zu sehen, im Rahmen eines Ukraine-Spendenabends.Die große Show in Turin gewinnt – die Ukraine, mit einer Rekordpunktzahl. Das Kalush Orchestra hätte mit „Stephania“ in anderen […]

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