Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg

Das kleine Nesthäkchen ist ein echter Liebling, ein Mädchen, das alle gern haben. Die Arzttochter Annemarie Braun lebt in den 1910er-Jahren in Berlin. Die Romane der Autorin Else Ury sind bis heute populär. In neun Büchern wird das Leben von Nesthäkchen, von Annemarie, bis zu ihren Tod begleitet.
1983 sind die ersten drei Bände der Romanserie sogar zu einer 6-teiligen ZDF-Serie verfilmt worden. Die Serie endete damit, dass Nesthäkchen Vater in Soldaten-Uniform vor ihr steht. Der Weltkrieg beginnt.

In den Roman geht es nach dem Krieg weiter. Eigentlich.
Eigentlich aber auch nicht. Denn es gibt in Wirklichkeit nicht neun, sondern zehn Teile der Romanserie. Band 4 spielt in eben jenem Weltkrieg, in den Jahren 1915 und 1916. Erschienen ist der Band erstmals 1916, als der Krieg also mittendrin war.

Der Band erzählt davon, wie Nesthäkchen in Berlin zu Kriegszeiten klarkommt. Ihr Vater ist als Arzt im Krieg. Ihre Mutter ist in England und kommt nicht weg. Ihr älterer Bruder ist auch nicht da. Die Oma kümmert sich um sie und ihren Bruder. Die Schule muss umziehen, da im eigentlichen Gebäude ein Lazarett eröffnet wird. Deutsche Siege werden gefeiert, die Feinde aus dem Land werden geächtet.

Dass es kaum bekannt ist, dass es das Buch „Nesthäkchen im Weltkrieg“ gibt, liegt auch daran, dass es in den vergangenen 100 Jahren dreimal verboten worden ist. Selbst in der Bundesrepublik war es lange nicht gedruckt worden.
Denn was in diesem Band zu lesen ist, sorgt mitunter für ordentliches Magengrummeln.
Denn Nesthäkchen wird hier über weite Strecken zu einer rassistischen Intrigantin. Sie stiftet ihre Klasse an, ein polnisches Mädchen zu meiden. Sie bejubelt deutsche Siege, schwenkt Fahnen, macht sich Gedanken für einen möglichen deutschen Sieg. Sie beteiligt sich an einer Kleidersammlung und besucht eine arme Familie in einer Mietskaserne.
Es ist ein düsteres Bild, das die Autorin Else Ury da zeichnet. Die biedere Bürgerlichkeit hat sich aufgelöst – oder: Vielleicht ist genau das auch die biedere Bürgerlichkeit, die plötzlich den Krieg verherrlicht, die auf Siege hofft, die Fremde mies behandelt.
Es ist ein Vaterlandsgesäusel, das man nur schwer ertragen kann und dem die Autorin nur selten etwas entgegensetzt.
Es ist vor allem kein Kinderbuch, auch wenn es sich an Mädchen von acht bis zwölf Jahren richtet. So völlig ohne Erklärung ist es ein sehr problematischer Stoff.

2016 erschien das Buch bei Holzinger, und was dort schmerzlichst vermisst wird (auch noch in einer Auflage von 2018): Ein aktuelles Vorwort, ein paar Erklärungen, Begleitungen. Das ist ein großes Versäumnis. Es geht nicht darum, sich zu rechtfertigen, aber es geht darum, den Leser ein wenig an die Hand zu nehmen.

Übrigens: Dass nicht vom Ersten Weltkrieg die Rede ist, sondern nur vom Weltkrieg, liegt natürlich daran, dass Else Ury 1916 nicht wissen konnte, dass es einen Zweiten Weltkrieg geben wird. Deshalb gibt es ihn im weiteren Verlauf der Buchreihe auch nicht. Nesthäkchen hat das Privileg, keinen Nationalsozialismus und keinen Zweiten Weltkrieg erleben zu müssen. Schöne Utopie.

Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg
Holzinger, 156 Seiten
3/10


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