Mit der Faust in die Welt schlagen

Diese Frage steht immer wieder im Raum: Was ist nur mit Ostdeutschland los? Was ist mit den Ostdeutschen los? Woran liegt es, dass sie sich so vielen Parteien oder Organisationen anschließen, die die Demokratie in Frage stellen könnten. Welche Rolle spielen Werte? Normen? Bildung? Empathie?
Wer diesen Film sieht, wird nicht alle Antworten darauf finden – aber man bekommt einen Einblick in eine Welt, die ins Rutschen gerät, aus den verschiedensten Gründen.
Deshalb zieht dieser Film einen in den Bann, auch wenn er quasi durchgehend bedrückend und niederschmetternd ist: „Mit der Faust in die Welt schlagen“.

2006 in einem kleinen Ort in der sächsischen Lausitz. Sie liegt fernab der großen Städte, es herrscht Trostlosigkeit, auch ein Stückweit Hoffnungslosigkeit.
Hier leben die Brüder Tobias (Camille Moltzen) und Philipp (Anton Franke). ihr Vater Stefan (Christian Näthe) ist dabei, ein Haus für die Familie zu bauen. Er baut seit fünf Jahren daran, ab und zu bekommt er Hilfe von einem Freund. Die Mutter Sabine (Anja Schneider) ist schwer genervt, weil ihr Mann einfach nicht vorankommt und ständig wieder etwas nicht funktioniert. Und das Auto ist auch kaputt.
Stefan verliert seinen Job, er beginnt zu trinken und scheint eine Affäre mit der Nachbarin zu haben. Sabine ist Krankenschwester, sie rackert sich ab, ist übermüdet.
Die Schule läuft für Philipp und Tobi mehr schlecht als recht. Sie fühlen sich verloren, weil, weil keiner mit ihnen spricht, was Sache ist. Philipp blüht erst auf, als er sich eine Gruppe Jugendlicher im Dorf anschließt. Dass Ausländer hassen und dann auch angreifen – er registriert das, macht auch mit.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Lukas Rietzschel – und was nur selten vorkommt, trifft hier zu: Der Film ist um viele Längen besser als das Buch.
Wir sehen zu, am Beispiel dieses Ortes und der Familie, wie eine Gesellschaft abdriftet. Es ist beklemmend zu sehen, dass hier alle nebeneinander leben. Keiner redet mit jemandem. Keiner teilt seine Sorgen und Ängste, keiner führt tiefgründige Gespräche. Sie alle haben sich nichts zu sagen.
Die Eltern sprechen nicht – und wenn Sabine doch mal ein Problem zur Sprache bringen will, flüchtet Stefan regelrecht. Stefan schweigt, wenn es darum geht, über Probleme zu sprechen. Stellt Tobias eine Frage, wird sie übergangen, nicht beantwortet. Als der Opa stirbt – die Eltern können mit ihren Kindern nicht darüber reden.
Und auch in der Schule: Es wird unterrichtet, mitunter mit albernen Kleinkinder-Methoden. Als auf dem Schulhof ein Stein mit einem Hakenkreuz versehen wird, kommt der Hausmeister, um es zu verdecken. Als Philipp ihn fragt, was so schlimm sei, erklärt der Mann es ihm nicht, sondern er schickt ihn weg.
Die Kinder bekommen keine Werte mehr übermittelt, kein Bewusstsein dafür, wo Grenzen liegen, keine Moral. Sie haben kein Vorbild, sie erleben keine Gemeinschaft.
Als Philipp sich den nazistischen Jugendlichen anschließt, geht es ihm vor allem darum, Anschluss zu haben, Freunde zu haben. Auch wenn es gar keine wirklichen Freunde sind. Dass sie Ausländerhasser sind, Naziparolen grölen und Anschläge verüben – Philipp nimmt es hin.
Wir sehen, wie und warum ein Teil der Gesellschaft abdriftet. Sie haben keine Perspektive, die Politik hat versagt. Und in der Situation haben sie keine Kraft mehr, der nächsten Generationen irgendwas mitzugeben. Werte gehen verloren, und die Jugendlichen suchen sich ihre eigenen – die von gestern. Gedankengut wird eingepflanzt, weil ja auch niemand mehr da ist, der gegen dieses Gedankengut angeht.
Deshalb ist der Zeitsprung am Ende spannend und folgerichtig – im Jahr 2015 sehen wir, was neun Jahre später passiert. An einem Punkt ist das überraschend, am Ende aber sehen wir das Ergebnis dessen, wovon der Film zu einem Großteil erzählt hat.
Dass gerade im Osten so viele Leute rechtsextrem wählen, hat Gründe – und die liegen eben nicht nur im Jetzt, sondern auch in dem, was in den vergangenen 20-30 Jahren geschehen ist. Ein schleichender Prozess.
Das wirklich bedrückende an diesem Film ist die Erkenntnis, dass in bestimmten Regionen die demokratische Gesellschaft an ihre Grenzen kommt – und dass Kipppunkte vielleicht schon längst hinter uns liegen.

-> Trailer auf Youtube

Mit der Faust in die Welt schlagen
D 2024, Regie: Constanze Klaue
Across Nations, 110 Minuten, ab 12
8/10


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