721. Das ist bei Angela Merkel die Zahl aller Zahlen. Denn auf so vielen Seiten (plus Register und Fotos) erzählt die ehemalige Bundeskanzlerin aus ihrem Leben. Drei Jahre nach dem Ausscheiden aus ihrem Amt legte sie ihre, durchaus mit Spannung erwartete Autobiografie „Freiheit“ vor.
Quasi wenige Stunden nach Erscheinung erschienen die ersten Kritiken. Man schaue, wer alles im Buch vorkommt – und wer nicht. Man erzählte, was Merkel über Russland und die Ukraine schreibt, über Corona und Friedrich Merz.
Dabei – und das muss man deutlich sagen – erzählt „Freiheit“ so viel mehr, und vor allem erzählt Merkel in ihren Erinnerungen mitunter viel spannendere Dinge als die, die in den Presse-Rezensionen durchgekaut wurden.
Erstmals berichtet Angela Merkel über ihr Leben in der DDR. Warum sie in Hamburg geboren worden war, über ihre kurze Station in der Prignitz und wie sie in und um Templin in der Uckermark aufgewachsen ist. Ossis werden es gut nachempfinden können, wenn Merkel davon erzählt, dass man schon als Jugendlicher wusste, was man in der Schule sagen durfte und was besser nicht.
Studium in Berlin, später der Mauerfall. Es ist ein bisschen lustig, wie Angela Merkel in ihrem Buch an gleich mehreren Stellen berichtet, dass sie die heiße Phase der Wende eigentlich gar nicht vor Ort miterlebt hat. Aber so ist das Leben.
Wirklich spannend ist es, zu lesen, wie sie 1989/90 in die Politik schlitterte. Hoffnungen, Visionen und Enttäuschungen beim Demokratischen Aufbruch, ihr Übergang in die CDU – und wie sie 1991 plötzlich Ministerin war.
Aus heutiger Sicht eine wirklich erstaunliche Entwicklung.
Es gibt in diesem Buch immer wieder Kapitel, die wirklich interessant sind: Wie sie Stoiber als Kanzlerkandidat den Vortritt ließ. Wie sie drei Jahre später Kanzlerin wurde. Außerdem 11. September, Bankenkrise. Atomkraft-Aus. Und natürlich relativ ausführlich die Flüchtlingskrise 2015.
Angela Merkel erzählt relativ nüchtern. Manchmal so nüchtern, dass es schon wieder lustig ist, weil man beim Lesen die Stimme Merkels hört und weiß, dass sie halt genau so ist, wie sie auch schreibt. Ohne Schnörkel, oft kurze Sätze. Aber vor allem: Immer verständlich. Sie schreibt, sie erklärt immer so, dass man es versteht. Es sind meistens keine Politikerstelzen, sondern sie schreibt so, dass jeder es nachvollziehen kann.
Im letzten Drittel lässt die Spannung allerdings nach, weil dann viele Themen kommen, die Merkel offenbar der Vollständigkeit halber wichtig waren. Da geht es dann um Partnerschaften, Bündnisse, spezielle Ereignisse. Das ist dann manchmal doch ermüdend.
Das ändert aber nichts daran, dass – zumindest für Politikinteressierte – dieses Buch spannender ist als erwartet. Es liest sich gut und gibt viele Einblicke ins Privatleben und in die Politik. Denn immer wieder schüttelt man als Leser den Kopf: Was ist das nur für ein irrsinniges Pensum, was sie hatte. Die vielen Themen, die vielen Probleme, die vielen Treffen und Reisen – und zwischendurch fix mal nach Hohenwalde in die Uckermark. Dort hatte und hat sie ihr Haus. Sie kokettiert nicht damit – aber das Buch zeigt auch, dass sie in ihrer zeit als Politikerin durchaus auch bodenständig geblieben ist.
Angela Merkel: Freiheit
Kiepenheuer & Witsch, 770 Seiten
8/10
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