DO 09.09.2010 | Potsdam, Nikolaisaal
Das Publikum aus dem Potsdamer Nikolaisaal wird mit lauten Trillerpfeiffen empfangen. „Pfui!“, schreit ein älterer Mann eine Frau an. Die lacht nur und geht weiter. „Pfui!“, schreit der Mann noch mal. Gerade ist die Veranstaltung mit Thilo Sarrazin zu Ende gegangen.
„Deutschland schafft sich ab“ lautet der Titel des Buches von Thilo Sarrazin. Es ist sehr umstritten, deshalb riefen einige linke Gruppen in Potsdam zu einer Demo auf.
Lange ist es ruhig in der Straße vor dem Nikolaisaal. Das heißt, ganz ruhig ist es nicht. Mehrere Polizisten laufen hin und her. Der rbb ist gleich mit fünf Autos vor Ort, die Reporter machen sich bereit.
Gegenüber dem Eingang sammeln sich unterdessen die Protestierenden. Sie rollen Plakate aus: „Kein Podium für Rassisten/innen und Nazis“ und „Fremdscham statt Rassenwahn“. Aus einem großen Lautsprecher ertönt Musik von Fanny van Dannen.
Martin Sonneborn ist auch da. Er scheint in Potsdam einen Beitrag für die „heute show“ des ZDF zu drehen. Es dauert nicht lange, da findet er ein williges Opfer. Eine ältere Frau sagt ihm genau die rechtslastigen Parolen ins Mikro, die der Satiriker braucht.
Als plötzlich drei rechte Demonstranten auftaucht, dir für Sarrazin einstehen, kommt Unruhe auf. Die Polizei drängt sie schnell ab. Wenig später geht das Gerücht um, dass Sonneborn etwas mit ihnen zu tun, sie bestellt haben soll.
Dann kommt er, der Thilo. Einfach so, angelaufen, mit seinen Bodyguards. Er hat Glück, dass das die Protestler zu spät bemerken. Wie eine wilde Meute rennen sie plötzlich vom eingangstor zum Seiteneingang, in dem der Thilo gerade verschwunden ist. Fast wäre die Situation eskaliert. Die Polizei hält einige Leute fest, die schreien wild herum. Sehr schnell ist die Lage wieder im Griff.
20 Uhr, im Nikolaisaal beginnt die Lesung, draußen gellt das Pfeifkonzert weiter. 700 Leute hören sich im Saal an, was Sarrazin zu sagen hat. Langer Applaus brandet auf, es scheint ein Heimspiel für Thilo zu sein. Es hat was von einem Parteitag.
Sarrazin hält jedoch keine Lesung ab, sondern spult noch mal seine Pressekonferenz ab, die er vor einigen Tagen gab. Er erzählt, worin es in den Buchkapiteln geht. Nach etwas mehr als 15 Minuten ist er durch.
Danach wird er von MAZ-Politikchef Ralf Schuler interviewt. Anfangs macht das Ganze den Eindruck eines Kuschelkurses, als Sarrazins Lebensgeschichte durchgekaut wird. Die härteren Fragen kommen erst später.
Dann leichte Unruhe. Schuler bekommt einen Zettel gereicht. Erst legt er ihn beiseite, dann fragt er doch: Die Agenturen würden Sarrazins Rücktritt als Bundesbankchef vermelden. Sarrazin ziert sich erst, will nichts dazu sagen, dann aber doch. Er habe seinen Rücktritt angeboten. Bei uns in Potsdam spricht er das erste Mal darüber.
Am Rand stehen Security-Männer, alles ist abgesichert, der Nikolaisaal ein Hochsicherheitstrakt.
Es herrschte eine merkwürdige Stimmung, als Sarrazin von den Genen, von den Miganten sprach. Immer wieder Applaus.
Als das Publikum fragen stellen durfte, wurde es dann auch eklig: Ein Mann stand auf und fragte, wann denn Sarrazin endlich eine eigene Partei gründen würde – die Partei der aufrechten Deutschen, er würde sofort eintreten. Applaus.
Hilfe, sind wir wirklich schon so weit?
Als alles zu Ende ist und die Leute aus dem Saal wieder auf die Straße kommen, werden sie als Nazis beschimpft. „Wer Sarrazin applaudiert, hat ’33 mitmarschiert.“ Das ist ein harter Vorwurf. Und einige beginnen zu diskutieren: Man müsse sich doch wenigstens mal anhören, was sarrazin zu haben habe. Die Leute, die andere deshalb als Nazis beschimpfen, seien doch nicht besser.
Eine aufgeheizte Stimmung, sehr viel aufgeheizter als vor der Veranstaltung. Und das, obwohl die Masse der Protestier am späten Abend viel kleiner ist als zwei Stunden zuvor.
Das Ende eines aufregenden Abends. Und eines nachdenklichen. Denn er zeigte, dass die Stimmung unter den Menschen doch schon recht bedrohlich ist. Die Tendenzen zeigen eindeutig nach rechts, selbst wenn Sarrazin das mit seinen Äußerungen gar nicht erreichen will. Aber wenn man die Leute so reden hört und sieht, wie sie sich begeistern lassen, dann wächst die Sorge vor der Zukunft.
Mein MAZvideo: Protest gegen Sarrazin-Lesung in Potsdam
Meine Bildergalerie: Proteste am Rande der Sarrazin-Lesung in Potsdam
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