Wendejahr 1989: Die letzte Gruppenratswahl

Geschichte: Die Wende im Westfernsehen – in der Schule fand sie 1989 lange nicht statt

MAZ Oranienburg, 7.10.2009

Parallelwelt im Herbst 1989: In den Schulen der DDR wurden die Proteste als Hetze des Westfernsehens abgetan.

ORANIENBURG
Schon wieder Gruppenratswahl. Irgendwie hatten wir da nie Lust drauf. Auf Pioniernachmittage sowieso nicht. Aber nun musste es wieder sein. An dem Tag, als in Leipzig 70 000 Menschen auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk!“ riefen, wählten wir in unserer Klasse den Gruppenrat.

Von der Wende war am 9. Oktober 1989 in meiner Schule noch nicht viel zu spüren. Die spielte sich kurz nach dem 40. Republikgeburtstag der DDR nur zu Hause ab – vor dem Fernseher. Und nur im Westfernsehen. Da sahen die Feierlichkeiten ganz anders aus als auf den DDR-Sendern: Verprügelte Demonstranten sahen wir dort nicht. War ja auch alles Hetzpropaganda des Westens, wie wir in der Schule erfuhren. Eine merkwürdige Parallelwelt, die für mich 1989, als Elfjähriger, schwierig einzuordnen war. Ich wusste nur: Ich darf wahrscheinlich erst mit 65 Jahren als Rentner in den Westen reisen. Und das nervte mich. Ebenso wie die Scheinheiligkeit: Schon im Kindergarten fragte mich meine Erzieherin, ob wir zu Hause „Tagesschau“ und „Sesamstraße“ sehen würden. Nur die „Sesamstraße“ gab ich zu. Dass wir die „Aktuelle Kamera“ doof fanden, verschwieg ich lieber.

Der normale DDR-Alltag ging weiter an der Pablo-Neruda-Oberschule in Oranienburg. Jeden Morgen in der Frühstückspause gab es Schoko- oder Erdbeermilch. Ich hasste den Erdbeergeschmack. Auch wenn die Schokosorte manchmal komisch roch, wenn man den silbernen Deckel abzog.
Ich war in der 5b und Thälmannpionier mit rotem Halstuch – das wir allerdings immer nur zum Fahnenappell anziehen brauchten und mir immer umgebunden werden musste. Ich konnte den Knoten nicht selber binden. Beim Appell gedachten wir wechselweise Ernst Thälmann oder der kompletten DDR – je nach Jahrestag. Oder es hagelte Auszeichnungen. Bei denen für Disziplin und gute Leistungen durfte ich auch einmal nach vorn und mir das Thälmannabzeichen abholen. Das waren noch Zeiten.

Nach besagter Gruppenratswahl am 9. Oktober 1989 war ich vierter Schriftführer. Als Ex-Gruppenratsvorsitzender in der 3. Klasse und Stellvertreter in der vierten ein Karriereabstieg. Aber ich hatte keine Lust mehr auf diesen Job.

Unsere Klassenpläne für das Schuljahr 1989/90 waren jedoch hochfliegend. Einmal im Monat am Mittwoch war Pioniernachmittag. Teilnahme war Pflicht, und ein Entschuldigungszettel („Ich war mit Mama Schuhe kaufen.“) nicht gern gesehen. Im November stand ein Tauschnachmittag auf dem Programm, im Dezember eine Weihnachtsfeier.

Dennoch war alles anders im Herbst 1989. Plötzlich fehlte eine Schülerin in unserer Klasse. Ohne Begründung. Erst später erfuhr ich, dass sie mit ihrer Familie in den Westen flüchtete. Und im November hatte sich die ganze Sache mit dem Mauerfall sowieso erledigt. Und das war gut so: Ansonsten hätten die Wehrkunde und die Verpflichtung für drei Jahre Dienst bei der Armee direkt bevorgestanden. Und das wäre dann gar nicht mehr witzig gewesen. Gut, dass alles anders kam.


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