Das Grauen beim Kuchenessen

Jelineks „Rechnitz“ an den Münchner Kammerspielen

Übungstext für die Akademie der Bayerischen Presse, 24.6.2009

Wenn man 180 Leute erschossen hat, dann ist der Rest kein Problem mehr. Und das Vergraben der Leichen klappt dann auch schon. Während die Protagonisten auf der Bühne das Unheimliche aussprechen, verspeisen sie ganz gemütlich ein Hühnerbeinchen nach dem nächsten.

Es geht um Mord. Um heimtückischen Mord an 200 Menschen. Umgekommen kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Rechnitz, an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland. Die Autorin Elfriede Jelinek brachte das Grauen auf die Bühne. Weniger in Bildern, mehr in Worten. Ein paar Bilder mehr wären allerdings an einigen Stellen ganz hilfreich gewesen.
„Rechnitz (Der Würgeengel)“ unter der Regie von Jossi Wieler wurde am Dienstagabend an den Münchner Kammerspielen aufgeführt.

Das Unfassbare spielte sich in der Nacht zum 25. März 1945 auf Schloss Rechnitz ab. SS-Offiziere, Gestapoführer und einheimische Nazis feierten ein „Gefolgschaftsfest“. Sie tranken, tanzten – und mordeten. Während dieser Party wurden fast 200 jüdische Zwangsarbeiter erschossen. Vorher mussten sie sich nackt ausziehen und brutalste Gewalt über sich ergehen lassen. Unter den Partygästen verteilte der NSDAP-Ortsgruppenleiter dazu an ausgewählte Gäste Waffen – unter ihnen auch Graf und Gräfin Batthyány, die Besitzer des Schlosses. Die „Gastgeber der Hölle“.
Bis heute ist unklar, wo sich die Massengräber von Rechnitz befinden, der kleine Ort mit 3000 Einwohnern ist auch 2009 noch gezeichnet von dem Schrecken, geredet wird ungern über dieses schwarze Kapitel.

Elfriede Jelinek nahm das nicht hin, verarbeitete das Grauen stattdessen in einem Theaterstück. Die Tat selbst lässt sich offenbar auf der Bühne nicht darstellen. Stattdessen stehen den Zuschauern fünf Boten gegenüber, Berichterstatter, Zeugen des Verbrechens. Nach und nach erzählen sie, was geschehen ist, kommentieren, ordnen ein. Nebenher amüsieren sie sich, rekeln sich auf dem Boden, mampfen Kuchen. Eine Verhöhnung der Opfer.
Geschichtsaufarbeitung über Berichte von Zeitzeugen, die jedoch mehr als Zeitzeugen sind, vielleicht sogar Täter.
Doch das Konzept, das sich Jelinek für die Darstellung dieser Geschichtsepisode ausgedacht hat, geht nicht auf. Zu statisch bleibt das Erzählte. Zu eintönig auch Jossi Wielers Inszenierung. Das Grauen überträgt sich nur sehr selten. Nur dann, wenn die Einflüsse von außen auch auf die Bühne und in den Zuschauerraum dringen. Als Schüsse von allen Seiten zu hören sind, kommt ein Gruselschauer auf: Wenn sich die Boten unter Kopfhörern verschanzen, weil sie vom Beschuss nichts hören wollen. Ansonsten aber wird der Zuschauer über weite Strecken auf eine Geduldsprobe gestellt. Lange braucht er, um zu erfahren, worum es überhaupt geht in dem Stück. Ohne Vorwissen ist das Geschehen kaum zu begreifen.
An den Schauspielern liegt es nicht. Im Gegenteil: Katja Bürkle, André Jung, Hans Kremer, Steven Scharf und Hildegard Schmahl beeindrucken durch ihre Natürlichkeit. Sie sprechen 110 Minuten lang, als ob sie spontan daherplaudern. Manchmal kommt gar beschauliche Klassenfahrtatmosphäre auf, als wenn sich abends alle noch einmal treffen und dann jeder etwas erzählt.
Doch die Texte, so ganz ohne Anschauung, führen leider nur selten dazu, dass der Zuschauer gepackt wird, emotional getroffen ist.
Mit ihrem Stück scheint Elfriede Jelinek vor allem ein gehobenes Publikum erreichen zu wollen, denn den Otto-Normalbürger wird sie damit überfordern, ja, vielleicht sogar langweilen. Womit sie das Potenzial dieser unheimlichen Geschichte nicht ausgeschöpft hat. Szenen, wie die speisende Gruppe, die über Morde plaudert, können ein dramaturgischer Kniff sein – ein ganzes, langes Stück trägt diese Idee jedoch nicht.


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