Unsere Heimat

Ein Stück Geschichte: Blick in ein Gruppenbuch des Schuljahres 1988/89

MAZ Oranienburg, 21.10.2004

ORANIENBURG
„Ernst Thälmann ist mein Vorbild.“ Das steht auf der ersten Seite des Gruppenbuches der 4b der Oranienburger Pablo-Neruda-Oberschule. Aufgeschrieben im September 1988. In fast jeder Klasse in der DDR notierte der Schriftführer, Teil des Gruppenrates, in ein solches Buch alle wichtigen Ereignisse des Schuljahres. Gruppenratswahlen, Altstoffsammlungen, Klassenausflüge. Mein Schulfreund Thomas hat dieses Gruppenbuch damals geführt und es bis heute aufgehoben. Regelmäßig wird darin geblättert und an früher gedacht.
„Unsere Klassenlehrerin, die wir lieben und verehren, ist Frau Z.“ Würde heute ein Schüler solche Worte noch in den Mund nehmen? „Wir durften schon sehr viel bei ihr lernen. Auch den Weg zu unserem Vorbild Ernst Thälmann hat sie uns gezeigt.“ Heute heißen die Vorbilder ganz anders.
Gruppenratswahlen. Ich werde stellvertretender Gruppenratsvorsitzender. Ein Abstieg: Bis dahin war ich der Boss! Das Schuljahr 1988/89 stand unter dem Motto: „Meine Liebe, meine Tat meiner Heimat DDR“.
Der 23. September 1988 war der Tag, an dem wir in der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen zu Thälmannpionieren wurden. Dazu steht im Gruppenbuch: Genosse und Widerstandskämpfer Werner F. begrüßte uns mit: „Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit.“ Wir antworteten: „Immer bereit!“ Wir sangen den Pioniermarsch, ich und noch zwei andere trugen Gedichte vor. Dann wurden uns die Ausweise überreicht und die roten Pioniertücher umgebunden.
Einen Tag vor dem 39.Republikgeburtstag, am 6.Oktober 1988, fand auf dem Schulhof der Neruda-Schule ein Fahnenappell statt. Ich trug schon wieder ein Gedicht vor. Dafür gab’s beim nächsten Appell am 25.Oktober auch gleich eine Belobigung für gute Leistungen und Disziplin. Neben mir standen Dajana, Steffi, Jens und Rico vor der ganzen Schule stramm. War ich früher etwa ein Streber?
Nicht alles lief super. Leider hat uns unsere Patenbrigade „Wilhelm Pieck“ des Kaltwalzwerkes Oranienburg böse im Stich gelassen. Wir bekamen zwar Geschenke, wie zum Beispiel einen Tuschkasten, aber dafür ließ sich nie einer von denen bei uns blicken.
Großer Fasching am 17.Januar 1989. Im Jugendklub „Freundschaft“ war alles schön geschmückt. „Prima war die Polonaise ,Klingelingeling, jetzt kommt der Eiermann!’“ Ein Hit aus der kapitalistischen BRD auf einer sozialistischen Faschingsdisko? Und darüber hat sich niemand aufgeregt? Wohl nicht, aber die Neruda-OS ist in meiner Erinnerung keine der Schulen gewesen, die alle SED-Rituale knallhart durchzog.
In der 5.Klasse bekamen wir eine neue Lehrerin, Frau E. Das Motto für das Schuljahr 1989/90: „Meine Liebe, meine Tat meiner Heimat DDR.“ Das Gleiche wie im Jahr davor, aber mit Spitzfindigkeiten gibt man sich im Herbst 1989 sowieso nicht mehr ab.
Die letzte Gruppenratswahl, die ich je erlebte, fand am 9.Oktober 1989 statt, an dem Tag, an dem in Leipzig bei einer Montagsdemo erstmals der Staat nicht die Polizei drauf los prügeln ließ. Diesmal wurde ich nur Helfer des Schriftführers.
Im letzten Eintrag des Buches geht es um unsere Weihnachtsfeier am 20.Dezember 1989. Da war die Mauer schon gefallen und für die Pionierorganisation interessierte sich kaum noch jemand.


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