Morgens 7.10 Uhr in der S1

Gedanken und Beobachtungen in der morgendlichen S-Bahn nach Berlin

MAZ Oranienburg, 11.1.2001

OBERHAVEL/BERLIN
Guuten Moorrgen! Heute ist Donnerstag, unsere S-Bahn verlässt pünktlich um 7.10 Uhr (oder einige Bahnen früher oder später) den Oranienburger Bahnhof in Richtung Berlin-Wannsee. Frisch und munter schlägst du die MAZ auf und liest (hoffentlich) diesen Artikel. Er ist an dich gerichtet. An dich, der sich dem täglichen Autofahren in die große Stadt entzieht und lieber mit der Bahn fährt. Eine recht gemütliche Bahn übrigens. Wer öfter das Vergnügen hat, mit der S-Bahn von Birkenwerder Richtung Grünau zu fahren, weiß, wovon ich spreche: Hier fühlt man sich wirklich noch an alte DDR-Zeiten erinnert. Bei uns, in der S 1, sind schon modernere Zeiten angebrochen.
Vielleicht entdeckst du ja auch mich und meinen Freund Marcel in dieser 7.10-Uhr-Bahn. Glücklicherweise bekommt man in Oranienburg noch hundertprozentig einen Sitzplatz, was ein paar Stationen weiter nicht mehr unbedingt der Fall sein muss. Dann heißt es für viele nur noch stehen.
Und genießt du nicht auch diese Ruhe? Nur das Geräusch der fahrenden Bahn. Zumindest bis Birkenwerder, Hohen Neuendorf, wenn die ersten lärmenden Kids einsteigen. Kann man als alter und um diese frühe Uhrzeit müder Student überhaupt nicht nachvollziehen. Und dann die Mädels, die sich zur Begrüßung ein Küsschen auf die Wange oder auf den Mund geben. Echt süß! Oder das Mädchen, das nervös noch einmal in ihrem
Religionsheft herumblättert.
Apropos blättern. Der Blick in die Morgenpresse ist in der S-Bahn auch ohne eigene Zeitung möglich. Fast alle lokalen Blätter aus Oberhavel und Berlin sind vertreten. Die Leute mit den großformatigen, dicken Zeitungen brauchen natürlich mehr Platz …
So, inzwischen haben wir Berlin-Hermsdorf erreicht. Es ist voll geworden. Aber wir Oranienburger, Lehnitzer und Borgsdorfer haben ja unseren Platz. Sollen die Berliner, diese armen Schweine, ruhig stehen! Bis Wittenau, da wird es wieder leerer und gemütlicher. Mein Freund steigt in die U-Bahn um und viele scheinen in Wittenau zur Schule oder zur Arbeit zu gehen.
Ich fahre weiter ins Zentrum. Kann noch ein bisschen dösen. Es geht über Bornholmer Straße und Gesundbrunnen, wo an neuen Bahnsteigen und Gleisen gebaut wird. Jeden Tag ein bisschen mehr. Wenn man jeden Tag mit der gleichen Bahn, im gleichen Waggon, fährt, erkennt man, sich auch irgendwann wieder. Wie zum Beispiel der Vater mit seinem hörgeschädigten Sohn, die irgendwo in Berlin einsteigen und bis zum Nordbahnhof fahren. Offensichtlich wird der Kleine zur Schule gebracht. Per Gebärdensprache gibt der Vater noch einige nützliche Tipps für den Tag. Vermute ich mal. Und auch für mich wird es langsam Zeit. Inzwischen sind wir in den Nord-Süd-Tunnel eingefahren und die Station Friedrichstraße wird über den Lautsprecher ausgerufen. Für mich ist hier Endstation. Und wo musst du raus?


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