In der AGA (12): Sechs Kilometer

Zwei Wochen sind wir nun schon beim Bund. Zwei anstrengende Wochen. Der heutige Tag soll aber relativ ruhig verlaufen. Meinte zumindest der Hauptmann J. beim heutigen Morgenantritt. Wir sollen uns Zeit lassen, uns um Gottes Willen nicht fertig machen.
Heute findet der Sechs-Kilometer-Eingewöhnungsmarsch statt. Und da macht man sich ja überhaupt gar nicht fertig. Zumindest wenn man nicht laufen muss, sondern wie zum Beispiel Oberfeldwebel S. Unser Zugführer fährt die Strecke lieber mit seinem Jeep ab.
Wir nicht. Wir müssen laufen. Schwer bepackt. Auf dem Rücken ein etwa 30 Kilo schwerer Rucksack, der Seesack, mit allem drin, was wir an Bundeswehr-Sachen zwar heute nicht brauchen, aber der Sache wegen trotzdem mitschleppen sollten. Dazu natürlich das Gerödel mit der Munition um die Hüften geschnallt und das G3 an der Schulter liegend.

So marschieren wir also in unseren Gruppen mit je zwölf Mann in einer Zweierreihe. Hier beim Bund nennt man so etwas „Schützenreihe“. Die elf anderen Pioniere meiner Gruppe gehen mit vollem Elan an die Sache ran. Wie die Blöden rennen sie los, als ob es gilt, einen neuen Rekord aufzustellen.
Lustig wird es auch jedes Mal, wenn ein Auto am Horizont auftaucht. Denn die Autofahrer könnten einen Schock bekommen, wenn sie uns Heinis sehen. Oder der böse Feind könnte da gerade in dem Trabant angebraust kommen. Aus diesem Grund müssen sich Soldaten in so einem Fall in die nächste Böschung schmeißen.
Aber eigentlich kann man uns gar nicht erkennen. Schließlich sind ja unsere Stahlhelme getarnt. Da unser Sechs-Kilometer-Weg durch einen Wald führt, muss der Helm dementsprechend bearbeitet werden. Gräser, Blätter, Dreck und was sonst noch so rumliegt werden am Tarnnetz befestigt und schon sind wir getarnt, nicht mehr zu erkennen. So rauscht der Trabi glatt an uns vorbei, ohne dass der Fahrer auch nur Notiz von uns nimmt…

Mann-oh-Mann, sechs Kilometer können ganz schön lang sein. Zumal es hieß, die sechs Kilometer beziehen sich auf den Hin- und Rückweg. Im Moment habe ich das Gefühl, dass sich da wohl irgendjemand gewaltig vertan hat. Oder uns belogen hat. Und wie ich den Laden hier kenne, trifft sowohl das eine als auch das andere zu.
So latschen wir in unserer Schützengruppe, jeder mit seinem schussbereiten G3 in der Hand, durch Feld und Flur.
Ziel unserer kleinen Reise ist der Truppenübungsplatz Nitzow. Und langsam komme ich zur Überzeugung, dass zwischen Havelberg und Nitzow doch ein wenig mehr als sechs Kilometer liegen.

Nun könnte man ja denken: Okay, der Weg ist weit, die Soldaten sind erschöpft und das Tempo drosseln. Wer das denkt, hat nun wirklich keine Ahnung. Mit einem Affenzahn geht’s weiter. Ich bin das letzte Glied in der Schützenreihe und kann nicht mehr lange mithalten. Ich bin völlig am Ende. Der blöde Rucksack liegt mir wie ein Stein auf dem Rücken, meine Hand und mein Arm sind durch das Gewehr, das auch nicht gerade leichter wird mit der Zeit, schon ganz taub.

Doch das Highlight liegt noch vor uns. Durch den Wald führt ein Weg mit wunderbaren Zuckersand, der vermutlich als Schutz vor Waldbränden dient. Ich meine, das mal gehört zu haben. Jetzt denke ich allerdings, dass er ausschließlich dazu dient, uns junge Wehrpflichtige zu quälen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich am Wegesrand einen Jeep herumstehen. Eindeutig die Karre von Oberfeldwebel S., der wohl beobachten will, ob seine Methode uns fertig zu machen, funktioniert hat. Mit verschränken Armen und einem Grinsen lässt er uns an sich vorüberziehen.

Und dann, oh Wunder, gehen wir auf eine Schranke zu. Wir haben den Truppenübungsplatz erreicht. Ich bin zwar nicht mehr so ganz Herr meiner Sinne, aber eines weiß ich: Das waren nie und nimmer sechs Kilometer! An meinem rechten Fuß scheint sich eine Blase zu bilden. Angesichts dessen, dass wir den ganzen Weg heute Nachmittag auch wieder zurück müssen, könnte das zu einem echten Problem werden.

Natürlich sind wir nicht hierher gelaufen, um Urlaub zu machen. Wir haben hier auch wichtige Aufgaben zu erfüllen. Doch zu allererst müssen wir unser Gruppennest beziehen. Oder besser gesagt: Wir müssen es erst mal herrichten. Und das heißt in erster Linie: tarnen. Um unser gesamtes Nest müssen Äste, Zweige und Blätter so herumgebaut werden, dass es einen abgeschlossenen Raum ergibt. Ein Nest eben.
Natürlich dürfen wir unsere Waffen nicht aus der Hand legen – es könnten ja irgendwelche Räuber aus Sachsen vorbeikommen, die die modernen Geräte klauen könnten. Also schnallen wir uns die Teile auf den Rücken und machen uns auf, um im Wald nach Ästen und Zweigen zu suchen. Pilze gibt’s auch, die haben wir aber gefälligst stehen zu lassen, wie G. uns vorher klarmachte.
Am Ende ist unser Gruppennest so abgeschottet, dass es von außen nicht einsehbar ist. Aber es kommt ja sowieso niemand vorbei. Es hat sich jedenfalls keine Touristengruppe angemeldet – und Volker kommt auch nicht.

Rückweg. Nach wunderschönen Stunden auf dem Truppenübungsplatz Nitzow geht es nun wieder die garantiert mehr als sechs Kilometer zurück nach Havelberg.
Und ich habe die Schnauze gestrichen voll. Ich kann nicht mehr. Ich weiß überhaupt nicht, wo die anderen bloß die Energie hernehmen, auch dieses Mal mit einem Wahnsinnstempo durch die Natur zu hetzen.
In der Schützenreihe war ich auch jetzt wieder das letzte Glied, die Bezeichnung „letzter Arsch“ würde allerdings besser passen. Nach und nach haben sich Unteroffizier Beständig und meine elf Kameraden von mir abgesetzt. Tja, dann kann ich mir ja auch Zeit lassen. Und das mache ich jetzt auch. Ich drossele mein Tempo so, dass ich wieder einigermaßen atmen kann. Die anderen verschwinden unterdessen hinter der nächsten Kurve. Toll, das war’s! Im Krieg würde ich jetzt wahrscheinlich den feindlichen Kräften in die Hände fallen. Nun gut, wenn sie dann aber mitbekommen, dass ich zu nix tauge, würden sie mich vielleicht wieder freilassen… oder töten. Vielleicht sollte ich doch noch einen Antrag stellen, dass ich hier rauskomme. Das bringt ja alles nix. Ich weiß ja nicht mal, ob und wann ich heute überhaupt wieder in die Kaserne zurückkomme… So ganz allein…
Hinter der Kurve empfängt mich die Gruppe. Einige sehen aus, als ob sie über die zusätzliche Pause extrem dankbar sind. Andere sind eher genervt.
Ich muss nun ganz nach vorne. Und irgendwie ging es dann doch noch. Die Elb-Havel-Kaserne hat uns wieder. Und das StoSanz muss Überstunden machen. Ein Großteil der Soldaten hat sich nämlich eine gehörige Blase am Fuß zugezogen. Oder zwei. Manche auch drei. Da habe ich mit meinem Fuß noch Glück gehabt. Es war wohl ganz richtig, einen Gang zurückzuschalten. Da sehen sie, was sie davon haben, so zu hetzen!

Mittwoch. Beim morgendlichen Antreten auf dem Flur gibt es einige Neukrank-Meldungen!

Glücklicherweise werden unsere Füße heute geschont. Heute müssen die Waffen gereinigt werden, die wir gestern durch die Weite Sachsen-Anhalts schleppen durften. Das ist ein netter Zeitvertreib, wenn man mit kleinen Fläschchen Öl, Läppchen und Kettchen hantieren dürfen. Okay, die G3s sind nicht wirklich dreckig, es sei denn, man hat sie während unseres gestrigen Ausfluges zwischenzeitlich irgendwo hingeschmissen. Wenigstens rostet das G3 nicht so schnell, wenn wir es einölen…


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Eine Antwort zu „In der AGA (12): Sechs Kilometer“

  1. […] Ich bin müde und matt. Meine Füße tun mir weh. Der Summter Storchenlauf liegt hinter mir. Beim Storchenlauf kann jeder Läufer, Walker, Nordic Walker und Wanderer teilnehmen. Außerdem kann sich jeder entscheiden, ob man 17 oder 24,5 Kilometer laufen möchte. Sabrina und ich entschieden uns spontan für die kürzere Version. Dass ich einen so langen Marsch vor mir habe – das ist schon gut 9 Jahre her (-> 16.9.1998). Der Lauf führt durch die Ortsteile des Mühlenbecker Landes. Zühlsdorf bekamen wir uns durch unsere Streckenkürzung leider nicht zu Gesicht. 9 Uhr in Summt. Die Läufer warten bereits am “Summter Storch”, an der Anmeldung bekommen wir unsere Unterlagen. Schnell noch ein Foto mit den Kollegen, und dann beginnt auch schon die Erwärmung. Da wir ja nur wandern, verzichten wir auf die Erwärmung. Ich ziehe es vor, frühstückend zuzusehen. “Stand up, stand up for the champions!” Der Song wird uns die ersten Kilometer als Ohrwurm begleiten. Er wird während der Erwärmung gespielt. 9.35 Uhr. Der Lauf beginnt. Einen schmalen Waldweg entlang. Links von uns der Summter See. Offenbar gibt es neben uns nur noch zwei Wanderer. Zwei ältere Frauen folgen uns mit einigen Abstand. Nun ja, nach der ersten Kreuzung waren sie plötzlich verschwunden – und nie wieder gesehen… Wichtig für uns waren die Schilder mit dem Storch drauf. Sie wiesen uns den Weg. Von Summt aus ging es dann über weite Felder zum Zehnrutenweg. Hier überholte uns ein Paar mit einem Hund. Hinter der Autobahnbrücke war die erste Raststelle. Die wir natürlich an sich gar nicht nötig hatten. Da aber dort die Bürgerinitiative “A-10-Ausbau Mühlenbecker Land” Unterschriften sammelte und ich auch nicht wirklich für den Ausbau der A 10 bin, setzte ich meine Unterschrift auf die Petition. Den Kuchen verschmähten wir. Ich hatte schließlich noch ein Brötchen dabei. Weiter nach Mühlenbeck. Kurz vor dem S-Bahnhof Mühlenbeck-Mönchmühle erschien Kollege Helge am Horizont. Er gehörte zu den Läufern, die die volle Distanz rannten. Jetzt holte er uns ein. Ebenso übrigens das Paar mit dem Hund. Das zweite Mal also. Wo wir sie allerdings überholt haben könnten, blieb uns schleierhaft. Sehr mysteriös. Wir erreichten Schildow und den nächsten Verschnaufpunkt. Den nutzten wir allerdings, um uns mal einen Moment hinzusetzen. Mein linker Fuß begann, weh zu tun. Schuh aus, Strumpf zurecht gezogen, Wasser getrunken – und weiter. Ich merkte: Jetzt wurde es problematisch. Aber es ging noch. Wir hatten noch etwa 11 Kilometer vor uns. Von Schildow nach Schönfließ liefen wir einen asphaltierten Weg neben der B96a entlang. Nicht unbedingt ein Höehpunkt. Letzte offizielle Pause an der Feuerwehr in Schönfließ. Zwei junge Damen, die nicht unbedingt den Eindruck machten, als mache ihnen das Herumsitzen wahnsinnigen Spaß. Wir tranken wieder einen Becher Wasser – und weiter ging’s. Mit Startschwierigkeiten. Nach einer Pause mit leicht schmerzendem Fuß (inzwischen eher der rechte), kommt man nicht so leicht wieder los. Am Ortsausgang von Schönfließ sieht man mitten im Nichts den S-Bahnhof Schönfließ. Ruhig und beschaulich liegt er da. Als Bahnfahrer habe ich mich schon immer gefragt, wo eigentlich der Ort zum Bahnhof liegt. Man muss schon ein bisschen laufen. Als wir den Bahnübergang passierten, ging auch schon wieder die Schranke zu. So schnell konnten wir die Schienen gar nicht verlassen, so schnell fiel die Schranke runter. Ein paar Kilometer weiter eine kleine Überraschung: das Ortsschild von Bergfelde. Bergfelde? Der Ort gehört doch gar nicht zum Mühlenbecker Land, sondern zu Hohen Neuendorf! Und weil das so ist, haben die Organisatoren den Ort glatt mal verschwiegen. Bergfelde hätte es, trotz kurzer Passierstrecke, auch verdient, erwähnt zu werden! Letzte Etappe: Durch den Wald zurück nach Summt. Immer auf der Suche, nach den Storchenschildern. (Ich: “Da! Ein Storch!”) Und wir merken: Wir sind nicht die Letzten. Nach uns kommen noch Läufer und Walker. Sabrina hat sogar noch Zeit, im Wald Himbeeren zu naschen. Meine Füße zwingen mich inzwischen, den Gang ein wenig zu verlangsamen. Summt. Ein Obsthändler verführt mich zum Kauf eines Apfels. Die mutmaßlich letzten Nordic Walker hinter uns nutzen dies, und überholen uns. Fassungslos waren wir allerdings, als die Walker auf den letzen Metern plötzlich samt Workingstöcke begannen, zu joggen. Um uns zu demütigen. Na toll. Vier Stunden waren wir unterwegs. Lohn waren eine Urkunde ohne persönliche Widmung und eine kostenlose Bratwurst mit Kartoffelsalat. Warum allerdings im Hinterhof des “Summter Storches” getragene Klassikmusik von Radio Kultur zu hören war, hat sich uns nicht erschlossen. Klang wie Beerdigung. Dabei waren wir froh, es geschafft zu haben. Und die vier Stunden vergingen schnell. Und dass es anstrengend war, bemerkte ich erst mit der Zeit. 17 Kilometer wandern. Was habe ich daraus (fürs nächste Mal?) gelernt? Vernünftige Wanderschuhe! Socken ohne Naht! Keine scheuernden Shorts! Fortsetzung? Mal sehen! […]

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